Nach meinem gestrigen Post habe ich mich intensiver mit der Frage beschäftigt, warum Agrarland zunehmend in die Hände von Investoren gelangt. Beispiele aus Europa zeigen, wie Spekulation bäuerliche Strukturen bedroht und die Ernährungssouveränität schwächt.

Wenn Agrarland zum Anlageprodukt wird, warum Europa dringend eine Debatte über Boden braucht

Nach meinem gestrigen Post https://f97.be/blog/2025/11/27/steigende-bodenpreise-und-agrarland.html habe ich mich heute einmal intensiver mit der Materie befasst. Dabei wird schnell klar, dass der Trend, Agrarland als Kapitalanlage zu betrachten, kein lokales Phänomen ist. Ähnliche Entwicklungen finden sich in mehreren europäischen Ländern, und überall haben sie die gleichen Folgen, steigende Preise, wachsende Konzentration und eine schleichende Verdrängung bäuerlicher Betriebe.

Ein Beispiel ist Rumänien, wo inzwischen ein erheblicher Teil der Agrarflächen in der Hand externer Investoren liegt. Der Europäische Wirtschafts und Sozialausschuss weist darauf hin, dass bis zu zehn Prozent des Landes aus Drittstaaten heraus kontrolliert werden und weitere zwanzig bis dreißig Prozent von Investoren aus anderen EU Staaten gehalten werden. Viele kleine Betriebe verlieren dadurch den Zugang zu Land, während grosse Player Flächen bündeln und industriell bewirtschaften. Das schwächt die lokale Landwirtschaft und die regionale Ernährungssouveränität. Quelle, European Economic and Social Committee: https://imglobalwealth.com/articles/the-hidden-hand-billionaire-investment-in-farmland-and-its-global-implication/

In Spanien und anderen Teilen Südeuropas beobachten Medien wie Euronews, dass Investmentfonds gezielt ländliche Regionen kaufen. Olivenhaine, Bewässerungsland und Obstplantagen gelten als stabile Renditequellen. Während Landwirte über steigende Preise klagen, sichern sich Finanzinvestoren langfristige Besitzpositionen. Die Landschaft wird damit nicht mehr als Lebens und Produktionsraum verstanden, sondern als Anlageklasse. Hintergrundanalyse, Foodprint: https://foodprint.org/blog/the-trouble-with-farmland-investment/

Ähnlich problematisch ist die Lage im Vereinigten Königreich. Daten der Immobilienberatung Strutt and Parker zeigen, dass heute mehr als die Hälfte der Agrarflächen an Nicht Landwirte verkauft wird. Innerhalb eines Jahres gingen rund vierhunderttausend Hektar landwirtschaftlicher Nutzung verloren. Hedgefonds und vermögende Privatpersonen kaufen Land gezielt als Investment, während Betriebe die Preise nicht mehr tragen können. Übersicht zu Landinvestitionen und ihren Auswirkungen, Farmlandgrab: https://www.farmlandgrab.org/post/18667-land-ist-leben-der-griff-von-investoren-nach-ackerland

Eine weitere Recherche zeigt, dass auch Milliardäre in der EU Landwirtschaft als stille Profiteure auftreten. Sie stehen als ultimative Nutzniesser hinter Agrarunternehmen, die über Jahre hinweg Milliarden an EU Subventionen erhielten, während gleichzeitig tausende kleine Höfe schliessen mussten. Es entsteht eine leise, aber spürbare Machtverschiebung, die den Zugang zu Land weiter erschwert. Analyse der Eigentümerstruktur und EU Agrarsubventionen, ArXiv Studie 2024: https://arxiv.org/abs/2409.00111

Diese Beispiele machen deutlich, dass die Frage nach dem Schutz von Agrarland weit über regionale Politik hinausgeht. Sie betrifft grundlegende Strukturen unserer Ernährungssysteme und die Zukunft bäuerlicher Landwirtschaft in ganz Europa.

Warum diese Entwicklung gefährlich ist

Die zunehmende Finanzialisierung von Agrarland ist gefährlich, weil sie die grundlegenden Funktionen eines der wichtigsten Gemeingüter unserer Gesellschaft verändert. Land dient in erster Linie der Nahrungsmittelproduktion, der Bewahrung biologischer Vielfalt, der Stabilisierung von Ökosystemen und der Grundlage ländlicher Gemeinschaften. Wenn diese Fläche jedoch zu einem Renditemodell wird, verschieben sich Prioritäten und Entscheidungslogiken. Finanzielle Interessen treten an die Stelle von Versorgungssicherheit und ökologischer Verantwortung.

Wenn Investoren Land kaufen, wird dieses Land zu einem Asset, das eine Rendite erzeugen soll. Das kann zu intensiveren Bewirtschaftungsformen führen, zu Monokulturen, zu höherem Einsatz von Düngern und Pestiziden und zu einem kurzfristigen Denken, das die Regeneration des Bodens vernachlässigt. Es schwächt kleinbäuerliche Strukturen, weil sie die steigenden Bodenpreise nicht mehr bezahlen können. Junge Menschen, die in die Landwirtschaft einsteigen wollen, scheitern am Kapitalbedarf. Bestehende Betriebe verlieren die Möglichkeit, Flächen zu pachten oder zu kaufen.

Gleichzeitig gefährdet die Konzentration von Land in Händen weniger Eigentümer die regionale Ernährungssouveränität. Wenn Agrarflächen nicht mehr von jenen kontrolliert werden, die vor Ort leben und die lokale Versorgung sichern, wird die Region abhängig von den strategischen Interessen externer Akteure. Diese entscheiden nicht nach ökologischen oder sozialen Gesichtspunkten, sondern nach Renditeerwartungen. Das ist besonders kritisch in Zeiten des Klimawandels, in denen stabile, resiliente Ernährungssysteme wichtiger werden als je zuvor.

Die ökologische Dimension ist ebenso zentral. Traditionelle und diversifizierte Landwirtschaft schafft Lebensräume, erhält Landschaftsstrukturen und schützt bedrohte Arten. Finanzgetriebene Modelle tendieren dagegen oft zur Vereinheitlichung und zum Flächenverbrauch, was Biodiversität weiter unter Druck setzt. Auch das kulturelle Erbe ländlicher Regionen wird geschwächt, weil bäuerliche Betriebe verschwinden und mit ihnen Wissen, Tradition und Identität.

Kurz gesagt, die Finanzialisierung von Agrarland gefährdet Lebensmittelproduktion, ökologische Stabilität, soziale Strukturen und kulturelle Vielfalt. Sie untergräbt das Gleichgewicht zwischen Mensch und Landschaft. Und genau deshalb ist eine breite politische Debatte über den Schutz landwirtschaftlicher Flächen dringend notwendig.

Nicht, dass diese Entwicklung neu ist

Nicht, dass diese Entwicklung neu ist. Meine Lieblingsboygroup Karl Marx und Friedrich Engels hat dieses Thema schon im neunzehnten Jahrhundert seziert. Und je genauer man liest, desto klarer erkennt man, dass vieles, was wir heute erleben, bereits damals beschrieben wurde, nur mit weniger PowerPoint und mehr Substanz.

Der Boden als Ware

Bereits 1867, im ersten Band des Kapital, analysiert Marx die grundlegende Verschiebung, die entsteht, wenn Boden zur Ware wird. Für ihn ist Boden Teil der Natur, also ein Gut, das nicht durch menschliche Arbeit geschaffen wurde. Trotzdem erhält er im Kapitalismus einen Preis, weil Eigentumstitel gehandelt werden. Marx schreibt, dass der kapitalistische Markt Boden so behandelt, als hätte er die gleichen Eigenschaften wie ein industrielles Produkt, obwohl er keiner ist.

Das ist bemerkenswert modern, denn genau diese finanzielle Entkopplung – Bodenpreis ohne Bezug zum Ertrag – treibt die Spekulation von heute.

Entfremdung zwischen Bauern und Land

Im Manuskript zu Band III des Kapital, veröffentlicht posthum 1894, beschreibt Marx die „Entfremdung des Produzenten vom Boden“ als strukturelle Folge kapitalistischer Landmärkte. Wer Land nicht besitzt, verliert Kontrolle über die eigene Arbeit. Wer Land besitzt, erzielt Einkommen, ohne real zu produzieren.

Damit beschreibt Marx exakt jene Entwicklung, die wir heute beobachten, wenn Fonds und Großinvestoren Land kaufen, es verpachten und vom steigenden Bodenwert profitieren.

Die Konzentration des Eigentums

Engels formuliert im Anti Dühring (1878, vollständig 1880 veröffentlicht), dass die Konzentration von Grund und Boden in wenigen Händen nicht zufällig, sondern eine systemische Folge der kapitalistischen Produktionsweise ist. Er schreibt, dass kleine Betriebe zwar lange überleben können, aber „unter den ökonomischen Bedingungen systematisch in die Enge gedrängt“ werden. Das deckt sich genau mit aktuellen Phänomenen, in denen junge Landwirtinnen und Landwirte kaum noch Flächen erwerben können, weil Bodenpreise durch externe Käufer in Höhen steigen, die die landwirtschaftliche Ertragskraft längst übersteigen.

Die Grundrente als Mechanismus sozialer Ungleichheit

Einer der zentralen Beiträge von Marx in Band III des Kapital ist die Analyse der Grundrente. Dort zeigt er, dass Landbesitzern Einkommen zufliesst, das nicht auf eigener Arbeit beruht, sondern auf Eigentum. Er unterscheidet dabei drei Formen von Rente (Differentialrente I, Differentialrente II und absolute Rente), die alle eines gemeinsam haben, sie stärken jene, die besitzen, und schwächen jene, die arbeiten.

In einer modernen Sprache würde man sagen: „Wer Land hat, gewinnt, wer Land braucht, verliert.“ Genau diese Logik prägt auch die heutigen Landmärkte.

Engels zur Bauernfrage

Im Text Die Bauernfrage in Frankreich und Deutschland (1894) analysiert Engels, wie Bauern durch steigende Bodenpreise, Abgaben, Schulden und Konkurrenz unter Druck geraten. Er betont, dass der Niedergang kleiner Höfe kein moralisches oder persönliches Versagen ist, sondern eine ökonomisch erzeugte strukturelle Benachteiligung.

Die Parallele zur Gegenwart könnte kaum klarer sein. Kleine und mittlere Betriebe kämpfen nicht, weil sie ineffizient wären, sondern weil Land ein teures Investmentgut geworden ist.

Eine erstaunlich aktuelle Warnung

Sowohl Marx als auch Engels sahen Boden als strategisches Gut. Marx schreibt, dass die Aneignung des Bodens durch wenige letztlich „die Unterwerfung des ganzen Volkes“ bedeutet. Eine drastische Formulierung, aber sie verweist auf das Wesentliche: Wer den Boden kontrolliert, kontrolliert die Lebensmittelproduktion, die Landschaft, die Preise und am Ende die Lebensbedingungen der Bevölkerung.

Wenn man diese Texte liest, wirkt vieles erschreckend gegenwärtig. Die Spekulation mit Boden, die Entkopplung von Besitz und Arbeit, die Konzentration des Eigentums, die Verdrängung kleiner Betriebe, all das war für Marx und Engels kein Nebenthema, sondern ein struktureller Kern des kapitalistischen Systems.

Die Finanzialisierung von Agrarland, die wir heute erleben, ist nur die modernisierte Variante eines sehr alten Problems.