Der Fachkräftemangel ist kein Naturereignis, sondern oft das Ergebnis unternehmerischer Entscheidungen. Unternehmen suchen erfahrene Profile, ohne sie aufzubauen, schreiben Tools statt Verantwortung aus und outsourcen Wissen, das sie später schmerzlich vermissen. „Wir finden niemanden“ bedeutet in vielen Fällen nicht Mangel, sondern mangelnde Bereitschaft zur Entwicklung.
Warum Unternehmen selbst den Fachkräftemangel verursachen
Der Fachkräftemangel wird gerne als äußere Bedrohung beschrieben. Demografischer Wandel, Bildungssystem, Politik, zu wenige Absolventen, zu viele Erwartungen. In dieser Erzählung sind Unternehmen vor allem Opfer eines Marktes, der ihnen nicht mehr liefert, was sie brauchen. Diese Perspektive ist bequem, aber sie greift zu kurz. Denn ein erheblicher Teil des Fachkräftemangels ist hausgemacht.
Das zeigt sich besonders deutlich in der IT, aber es ist kein ausschließlich technisches Phänomen. Unternehmen klagen über fehlende Fachkräfte, während sie gleichzeitig Strukturen aufrechterhalten, die systematisch verhindern, dass Fachkräfte entstehen.
Der erste Widerspruch liegt in der Suche nach Erfahrung ohne Aufbau. Viele Unternehmen wollen Senior-Profile, Menschen mit Überblick, Urteilsvermögen und Verantwortungserfahrung. Gleichzeitig haben sie ihre Ausbildungs- und Einarbeitungsstrukturen über Jahre zurückgebaut. Junioren gelten als Risiko, Mentoring als Kostenfaktor, Lernphasen als Produktivitätsverlust. Wer heute nur einstellen will, was sofort funktioniert, sorgt dafür, dass morgen niemand mehr da ist, der funktionieren kann. Erfahrung entsteht nicht auf dem Markt, sie entsteht im Betrieb. Wer sie nicht aufbaut, kann sie später auch nicht einkaufen.
Hinzu kommt eine zweite strukturelle Schieflage, die sich in Stellenausschreibungen zeigt. Gesucht werden oft keine Menschen mit Verantwortung, sondern Tool-Kombinationen. Drei Cloud-Plattformen, fünf Frameworks, zwei Programmiersprachen, idealerweise alles gleichzeitig. Was dabei verloren geht, ist die eigentliche Frage: Wer versteht das System? Wer trägt Entscheidungen mit? Wer übernimmt Verantwortung, wenn etwas schiefgeht? Tools ändern sich, Verantwortung bleibt. Unternehmen, die nach Werkzeugen statt nach Urteilsfähigkeit einstellen, produzieren zwangsläufig Austauschbarkeit, und wundern sich später, dass Loyalität und Bindung fehlen.
Ein dritter Faktor ist die kurzsichtige Effizienzlogik von Outsourcing und Automatisierung. Externe Dienstleister und KI-gestützte Systeme sparen kurzfristig Kosten und erhöhen scheinbar die Produktivität. Was dabei oft übersehen wird, ist der schleichende Kompetenzverlust im eigenen Haus. Wissen verlagert sich nach außen oder in Black Boxes, Lernkurven werden abgeschnitten, Verantwortung diffundiert. Wenn dann etwas schiefgeht, fehlt intern nicht nur die Zeit, sondern auch das Verständnis, um angemessen zu reagieren. Langfristig wird genau das teuer, nicht finanziell allein, sondern organisatorisch.
All das mündet in den wohl häufigsten Satz der aktuellen Debatte: „Wir finden niemanden.“ Übersetzt heißt das oft: Wir finden niemanden, der sofort einsetzbar ist, keine Einarbeitung braucht, keine Fragen stellt und keine Zeit kostet. Das ist kein Fachkräftemangel, das ist ein Entwicklungsverzicht. Wer keine Zeit investieren will, bekommt auch keine Kompetenz zurück. Wer Lernen als Störung betrachtet, wird irgendwann nur noch mit Mangelverwaltung beschäftigt sein.
Der eigentliche Mangel ist daher nicht an Menschen, sondern an Bereitschaft. Bereitschaft, Wissen aufzubauen statt einzukaufen. Bereitschaft, Verantwortung zu verteilen statt zu zentralisieren. Bereitschaft, Fehler als Teil von Entwicklung zu akzeptieren. Unternehmen, die diese Bereitschaft nicht haben, werden den Fachkräftemangel weiterhin beklagen, unabhängig davon, wie viele Absolventen der Markt hervorbringt.
Der Fachkräftemangel ist kein externer Schock. Er ist das Ergebnis einer Kultur, die kurzfristige Effizienz über langfristige Kompetenz stellt. Wer das ändern will, muss nicht beim Arbeitsmarkt anfangen, sondern bei sich selbst.