Nachdem ich beschrieben habe, warum Menschen leiser werden und wie Maschinen Inhalte zuerst wahrnehmen, geht es hier um die nächste Ebene: Plattformbetreiber entscheiden aktiv, wie sichtbar politische Inhalte überhaupt sein dürfen. Meta bestätigt selbst, dass politische Inhalte seit Jahren algorithmisch reduziert werden.
Wer steuert eigentlich Sichtbarkeit?
In den beiden vorherigen Texten habe ich beschrieben, wie sich Menschen zunehmend aus der öffentlichen Debatte zurückziehen und wie maschinelle Systeme Inhalte erfassen, lange bevor sie von Menschen gelesen werden. In diesem dritten Teil geht es um etwas noch Konkreteres: Plattformbetreiber treffen bewusste Entscheidungen darüber, wie sichtbar politische Inhalte überhaupt sein sollen. Das ist kein Nebeneffekt, kein technischer Zufall und keine Verschwörung. Es ist Produktpolitik.
Meta reduziert politische Inhalte, offiziell und dokumentiert
Meta selbst hat mehrfach bestätigt, dass politische Inhalte im Feed seit Jahren gezielt zurückgefahren werden. Bereits ab 2021 begann das Unternehmen damit, die Menge an sogenanntem „civic content“ zu reduzieren, also Beiträge zu Wahlen, Politik und gesellschaftlichen Themen. Diese Entscheidung wurde öffentlich kommuniziert und mit Nutzerfeedback begründet. Weniger Politik im Feed solle für viele Menschen weniger Stress, weniger Konflikte und eine angenehmere Nutzungserfahrung bedeuten.
Wichtig ist dabei nicht die Begründung, sondern die Konsequenz. Sichtbarkeit politischer Inhalte wird nicht mehr primär durch das bestimmt, was jemand postet oder was andere lesen wollen, sondern durch eine algorithmische Vorauswahl. Meta hat selbst erklärt, dass diese Reduktion feedseitig gesteuert wird und zunehmend personalisiert ist. Das bedeutet ganz konkret: Ob und wie oft mein politischer Beitrag anderen Menschen angezeigt wird, entscheidet ein System, nicht ich.
Diese Logik wurde später auf andere Meta-Plattformen ausgeweitet. Auf Instagram und Threads werden politische Inhalte von Accounts, denen man nicht folgt, standardmäßig nicht empfohlen. Auch das ist keine technische Einschränkung, sondern eine bewusste Entscheidung darüber, was Reichweite bekommen darf und was nicht. Empfehlung ist Reichweite. Wer nicht empfohlen wird, verschwindet aus der Wahrnehmung, ohne gelöscht zu werden.
Weniger Empfehlung bedeutet weniger Reichweite
Dass diese Entscheidungen reale Auswirkungen haben, ist inzwischen gut dokumentiert. Auch wenn Meta selbst nur begrenzte Daten offenlegt, zeigen Sekundäranalysen deutlich, dass politische und zivilgesellschaftliche Inhalte seit diesen Änderungen spürbar an Reichweite verloren haben.
Unabhängige Auswertungen und Berichte fassen zusammen, dass politische Accounts auf Instagram und Facebook seit der Reduktion von civic content deutlich weniger Sichtbarkeit erzielen als zuvor. Das betrifft nicht nur extreme Positionen, sondern auch moderaten, sachlichen politischen Content. Beiträge sind da, sie werden veröffentlicht, aber sie erreichen weniger Menschen.
Diese Beobachtungen passen exakt zu dem, was ich selbst sehe. Ein Post existiert, aber er taucht kaum noch auf. Es gibt keine Warnung, keine Ablehnung, keine sichtbare Zensur. Es gibt nur Stille. Und diese Stille ist das Ergebnis einer algorithmischen Entscheidung.
Sichtbarkeit ist keine Eigenschaft mehr, sondern ein Produkt
An diesem Punkt verliert der Begriff Öffentlichkeit seine frühere Bedeutung. Sichtbarkeit ist heute keine selbstverständliche Folge von Veröffentlichung mehr. Sie ist ein Produkt, das Plattformen herstellen, dosieren und verteilen. Algorithmen entscheiden, welche Inhalte als zumutbar, relevant oder erwünscht gelten, und welche nicht.
Das verändert politische Kommunikation grundlegend. Es reicht nicht mehr, etwas zu sagen. Es reicht nicht einmal mehr, etwas gut zu sagen. Entscheidend ist, ob ein System diesen Inhalt weiterreichen will. Und diese Entscheidung folgt nicht demokratischen, journalistischen oder inhaltlichen Kriterien, sondern Geschäftsmodellen, Engagementmetriken und Risikovermeidung.
Hinzu kommt ein weiterer, oft unausgesprochener Punkt. Sichtbarkeit ist nicht nur algorithmisch begrenzt, sie ist auch käuflich. Wer bereit ist, Geld in die Hand zu nehmen, kann Reichweite kaufen, ganz offiziell und transparent als Produkt. Ein politischer oder gesellschaftlicher Beitrag, der organisch kaum verteilt wird, kann gegen ein tägliches Budget plötzlich hunderte zusätzliche Accounts erreichen. Nicht, weil er inhaltlich besser wäre, sondern weil er bezahlt wurde.
Damit wird Sichtbarkeit endgültig von Bedeutung entkoppelt. Sie ist weder Ausdruck von Relevanz noch von öffentlichem Interesse, sondern von Zahlungsbereitschaft. Öffentlichkeit wird so nicht nur gefiltert, sondern marktförmig organisiert. Wer zahlt, erscheint. Wer nicht zahlt, verschwindet. Nicht durch Verbot, sondern durch Nicht-Verteilung.
Dass diese Möglichkeit offen angeboten wird, inklusive Budgetempfehlungen, Reichweitenschätzungen und automatisierter Abrechnung, zeigt, wie sehr Sichtbarkeit inzwischen als Ware verstanden wird. Politische Kommunikation wird damit stillschweigend in ein Modell überführt, in dem Aufmerksamkeit nicht mehr erarbeitet, sondern eingekauft wird.
Warum das zum Rückzug führt
Viele Menschen spüren diese Veränderung, ohne sie klar benennen zu können. Sie posten einen politischen Gedanken, einen Artikel, eine Einordnung, und erleben kaum Resonanz. Keine Reaktionen, keine Diskussion, keine sichtbare Reichweite. Der naheliegende Schluss ist Selbstzweifel. Vielleicht war der Text schlecht. Vielleicht zu kompliziert. Vielleicht uninteressant. In Wirklichkeit ist er oft einfach nicht verteilt worden.
Wer diese Erfahrung wiederholt macht, lernt. Nicht aus Resignation, sondern aus Anpassung. Man wird vorsichtiger, leiser, weniger bereit, Zeit und Energie in Inhalte zu investieren, die ohnehin kaum sichtbar werden. Oder man verlagert seine Texte in eigene Räume, Blogs, Newsletter, Seiten, wo zumindest nachvollziehbar ist, was passiert und was nicht.
Auffällig wird dieser Mechanismus besonders vor Wahlen. In diesen Phasen tauchen politische Inhalte plötzlich wieder sichtbar auf, allerdings oft in einer sehr spezifischen Form. Sie sind als Werbung gekennzeichnet. Bezahlte politische Postings erreichen Reichweiten, die organische Beiträge seit Monaten nicht mehr erzielen. Inhalte, die zuvor algorithmisch gedämpft wurden, erscheinen nun wieder im Feed, nicht weil sie gesellschaftlich dringlicher geworden wären, sondern weil für ihre Sichtbarkeit bezahlt wird.
Das verstärkt einen stillen, aber entscheidenden Effekt. Politische Kommunikation wird nicht nur gefiltert, sie wird monetarisiert. Wer über Budget verfügt, kann Sichtbarkeit herstellen. Wer keins hat, bleibt leise. Vor Wahlen wird das besonders sichtbar, weil dann die Ausnahme zur Regel wird. Politik erscheint wieder im Feed, aber vor allem dort, wo sie als bezahltes Produkt auftritt.
So entsteht eine Öffentlichkeit, die nicht durch Argumente oder Relevanz strukturiert ist, sondern durch Zahlungsfähigkeit. Menschen passen sich daran an, oft unbewusst. Sie posten weniger, sie diskutieren weniger, sie überlassen das Feld denen, die bereit oder in der Lage sind, Sichtbarkeit zu kaufen. Der Rückzug aus der öffentlichen Debatte ist damit kein individuelles Versagen, sondern eine nachvollziehbare Reaktion auf ein System, das Aufmerksamkeit nur noch gegen Bezahlung zuverlässig freigibt.
Sichtbarkeit ist politisch
Dass Plattformen politische Inhalte reduzieren, ist keine neutrale Entscheidung. Sie ist weder technisch notwendig noch zufällig. Sie verschiebt Diskurse, Wahrnehmungen und Beteiligung, lange bevor jemand merkt, dass überhaupt etwas verschoben wurde. Sichtbarkeit entscheidet darüber, was als relevant wahrgenommen wird, worüber gesprochen wird und was als Randthema gilt. Wer sichtbar ist, existiert politisch. Wer nicht sichtbar ist, verschwindet aus der gemeinsamen Wahrnehmung, auch wenn er formal noch spricht.
Diese Verschiebung geschieht nicht offen. Es gibt keine Ankündigung, keinen Aushang, keine rote Linie. Stimmen verschwinden nicht durch Verbote, sondern durch Nicht-Verteilung. Algorithmen bestimmen, welche Inhalte weitergereicht werden, wie oft sie auftauchen und bei wem. Das geschieht kontinuierlich, leise und ohne demokratische Rückkopplung. Sichtbarkeit wird damit zu einer knappen Ressource, die zugeteilt wird, nicht zu einem selbstverständlichen Bestandteil öffentlicher Rede.
Der stille Rückzug aus der Öffentlichkeit ist vor diesem Hintergrund kein individuelles Problem und schon gar kein Mangel an Engagement. Er ist eine nachvollziehbare Reaktion auf ein System, in dem Sichtbarkeit nicht mehr vorausgesetzt werden kann. Wer wiederholt erlebt, dass Inhalte zwar veröffentlicht, aber kaum gesehen werden, passt sich an. Man spricht weniger, vorsichtiger oder gar nicht mehr. Oder man zieht sich in eigene Räume zurück, in denen wenigstens klar ist, was passiert und was nicht.
Besonders deutlich wird diese Logik in Wahlkampfzeiten. Dann tauchen politische Inhalte plötzlich wieder häufiger im Feed auf. Allerdings fast immer in einer klar markierten Form: als Werbung. Beiträge, die monatelang kaum organische Reichweite hatten, erscheinen nun sichtbar, prominent und wiederholt, weil sie bezahlt werden. Sichtbarkeit kehrt nicht zurück, weil sie politisch notwendig wäre, sondern weil sie finanziert wird.
Damit stellt sich eine unbequeme Frage. Wenn politische Sichtbarkeit käuflich ist, wer kann sie sich leisten? Wer verfügt über die Mittel, systematisch Reichweite einzukaufen, während andere Stimmen leise bleiben müssen? Und wer entscheidet, welche Akteure vor Wahlen in der Lage sind, ihre Botschaften als bezahlte Inhalte massenhaft auszuspielen?
Auffällig ist, dass gerade rechte Parteien und Bewegungen vor Wahlen überdurchschnittlich häufig als Werbetreibende auftreten. Nicht nur präsent, sondern dominant. Das wirft keine einfache Schuldfrage auf, aber eine strukturelle. Sichtbarkeit wird dort erzeugt, wo Geld fließt. Wer gut organisiert ist, wer finanzielle Ressourcen bündelt, wer aggressive Reichweitenstrategien verfolgt, kann sich Öffentlichkeit kaufen. Wer das nicht kann oder nicht will, verschwindet.
In einem solchen System ist Öffentlichkeit nicht mehr das Ergebnis gesellschaftlicher Auseinandersetzung, sondern das Resultat von Budgetentscheidungen und Plattformlogiken. Sichtbarkeit wird zur Ware, politische Kommunikation zur Investition. Dass sich viele Menschen aus diesem Spiel zurückziehen, ist kein Zeichen von Apathie. Es ist ein Zeichen von Klarheit.
Die entscheidende Frage lautet daher nicht mehr, warum so viele Menschen schweigen. Die entscheidende Frage ist, unter welchen Bedingungen Sichtbarkeit überhaupt noch möglich ist, und wer den Preis dafür zahlt.
Relevante Quellen und Einordnung
Meta (2021), Änderungen am News Feed zu Civic Content Meta kündigte 2021 öffentlich an, die Menge an „civic content“, also Inhalten zu Politik, Wahlen und gesellschaftlichen Themen, im Facebook News Feed zu reduzieren. Begründet wurde dies mit Nutzerfeedback und dem Ziel, politische Inhalte weniger dominant auszuspielen. Entscheidend ist nicht die Motivation, sondern die Feststellung, dass politische Sichtbarkeit seitdem aktiv feedseitig gesteuert wird und keine neutrale Grundeinstellung mehr darstellt. https://about.fb.com/news/2021/02/reducing-political-content-in-news-feed/
Meta (2024, 2025), Political Content auf Instagram und Threads Meta erklärte 2024, dass politische Inhalte auf Instagram und Threads standardmäßig nicht mehr empfohlen werden, insbesondere wenn sie von Accounts stammen, denen Nutzer:innen nicht folgen. Empfehlung wird hier explizit von politischem Inhalt entkoppelt. Da Empfehlung Reichweite bedeutet, ist dies eine direkte Einschränkung politischer Sichtbarkeit durch Produktdesign. https://about.fb.com/news/2025/01/meta-more-speech-fewer-mistakes/
Instagram Help Center, Political Content Control Meta dokumentiert selbst, dass politische Inhalte über spezielle Kontrollmechanismen eingeschränkt oder erweitert werden können. Diese Funktion bestätigt, dass politische Inhalte gesondert behandelt werden und nicht denselben Verteilungslogiken unterliegen wie andere Inhalte. https://help.instagram.com/339680465107440
Tech Policy Press, Berichte zur Reichweitenentwicklung politischer Inhalte Mehrere Analysen fassen zusammen, dass politische und zivilgesellschaftliche Accounts nach den Meta-Änderungen messbar an Reichweite verloren haben. Die Berichte stützen sich auf Plattformdaten, Creator-Insights und Zeitreihenvergleiche und zeigen, dass der Rückgang nicht punktuell, sondern strukturell ist. https://techpolicy.press/report-finds-metas-approach-to-political-content-reduces-reach-for-activist-accounts
Accountable Tech, Analysen zu Instagram-Reichweite Accountable Tech wertete Reichweitendaten politischer Accounts aus und dokumentierte deutliche Einbrüche bei Interaktionen und Sichtbarkeit nach Einführung der politischen Empfehlungsbegrenzungen. Besonders betroffen sind nicht-kommerzielle, zivilgesellschaftliche und aktivistische Inhalte. https://accountabletech.org/research/metas-political-content-limit-causes-steep-drop-in-reach-for-accounts
Bertelsmann Stiftung (2025), „Demokratie im Feed?“ Auch wenn diese Studie nicht primär Facebook untersucht, zeigt sie systematisch, dass algorithmische Feeds politische Inhalte selektiv ausspielen und Parteien an den politischen Rändern überproportional sichtbar machen. Die Studie belegt, dass algorithmische Selektion politische Wahrnehmung formt, auch ohne explizite Zensur. https://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/user_upload/EINWURF_06_2025_Demokratie_im_Feed.pdf
Meta Ads Transparency und politische Werbung Meta bietet politische Sichtbarkeit ausdrücklich als Produkt an. Politische Inhalte können über bezahlte Werbung gezielt verbreitet werden, inklusive Reichweitenschätzungen, Budgetvorschlägen und automatisierter Ausspielung. Sichtbarkeit wird damit nicht nur algorithmisch begrenzt, sondern gleichzeitig monetarisiert. https://www.facebook.com/business/help/167836590566506