Belgien schaltet einen alten Reaktor ab und tut so, als wäre das ein Schritt in Richtung Ausstieg. In Wahrheit verlängert die neue Regierung die Laufzeiten der verbleibenden Meiler, plant neue Reaktoren und ignoriert dabei steigende Klimarisiken, explodierende Kosten und verpasste Chancen auf lokale Wertschöpfung. Ein Land, das vorgibt, Probleme zu lösen, während es gleichzeitig neue schafft.

Belgiens Atompolitik: Abschaltungen hier, Laufzeitverlängerungen dort

Mit der Abschaltung von Doel 2 sinkt die Zahl der aktiven belgischen Reaktoren auf zwei. Man könnte meinen, das Land bewege sich endlich in Richtung Ausstieg. Doch wer das glaubt, kennt die belgische Energiepolitik schlecht. Statt konsequent den nächsten Schritt zu gehen, tritt die neue Regierung auf die Bremse, legt den Rückwärtsgang ein und nennt das dann Zukunft.

Belgien feiert die Stilllegung eines fünfzig Jahre alten Meilers, während es gleichzeitig beschliesst, die beiden verbleibenden Reaktoren nicht etwa vom Netz zu nehmen, sondern zehn Jahre länger laufen zu lassen. Und damit nicht genug. Plötzlich werden auch neue Reaktorblöcke ins Gespräch gebracht, als hätte Europa in den letzten zwanzig Jahren nicht mit ansehen müssen, wie Atomprojekte weltweit aus dem Ruder laufen, Milliarden verschlingen und an etwas so Profanem wie Kühlwasser scheitern.

Kurz gesagt: Belgien schaltet einen alten Reaktor ab und nennt es Fortschritt, während es in Wahrheit das Gegenteil tut. Es verlängert Risiken, vergrössert Abhängigkeiten und ignoriert die Realität eines Klimas, das die Flüsse austrocknet, die diese Reaktoren überhaupt erst kühlen sollen.

Es ist das energiepolitische Äquivalent dazu, einen Kurzschluss zu reparieren und gleichzeitig das gesamte Sicherungssystem absichtlich zu überbrücken. Ein Moment der Erleichterung, gefolgt von einem noch grösseren Risiko, hausgemacht, teuer und vollkommen vermeidbar.

Welche Reaktoren in Belgien noch aktiv sind

Von den ursprünglich sieben Reaktoren laufen nur noch zwei:

Beide Meiler stammen aus den Achtzigerjahren und sind klassische Flussreaktoren, die auf verlässlich kühles Flusswasser angewiesen sind. Genau dieses Kriterium wird jedoch zunehmend unsicher.

Quelle: Internationale Atomenergiebehörde (IAEA), Reaktordatenbank https://pris.iaea.org/PRIS/

Die belgische Laufzeitverlängerung um zehn Jahre

Die neue belgische Regierung unter Bart De Wever will die Laufzeit von Doel 4 und Tihange 3 um weitere zehn Jahre bis 2035 verlängern. Die Begründung ist die übliche Mischung aus Versorgungssicherheit und geopolitischen Schlagworten, die immer dann hervorgeholt werden, wenn sonst nichts mehr trägt.

Doch das Grundproblem bleibt unangetastet: Die Risiken verschwinden nicht, sie werden schlicht auf die nächste Generation verschoben.

Belgien weiss genau, wie störanfällig seine alternden Reaktoren sind. Doel 3 und Tihange 2 sorgten wegen Rissen in den Reaktordruckbehältern europaweit für Schlagzeilen, ganze Städte gingen auf die Strasse, allen voran Aachen. Doch statt aus dieser Warnung Konsequenzen zu ziehen, wählt Belgien den bequemsten aller Wege: einfach weitermachen, als sei nichts gewesen, und darauf hoffen, dass die Realität noch ein Jahrzehnt lang höflich schweigt.

Quelle: Belgische Föderale Agentur für Nuklearkontrolle (FANK), https://fanc.fgov.be

Belgien prüft den Bau neuer Reaktoren

Die Regierung plant zusätzlich neue Kraftwerksblöcke. Noch ist offen, ob es EPR, SMR oder eine andere Großtechnologie wird. Doch eines ist sicher: Neue Reaktoren sind in Europa mittlerweile extrem teuer.

Eine kurze Realitätsschau: * Hinkley Point C (UK): 46 Milliarden Pfund und weiter steigend Quelle: UK Treasury & OBR – veröffentlicht 2025 (Analyse: The Telegraph berichtet über 1 Milliarde Pfund jährliche Zusatzkosten) https://www.telegraph.co.uk

Belgien würde also mindestens 15 bis 20 Milliarden Euro pro Reaktorblock investieren, wenn es sich an den europäischen Realpreisen orientiert. Wahrscheinlicher aber deutlich mehr.

Klimarisiko: Belgien setzt auf Flussreaktoren in einer Zeit, in der Flüsse austrocknen

Doel und Tihange hängen am Kühlwasser. Ohne ausreichend kaltes Wasser kann ein Reaktor:

Das ist keine Theorie. In Frankreich wurden 2022 und 2023 mehrere Reaktoren wegen zu warmer Flüsse gedrosselt oder abgeschaltet.

Quelle: The Guardian: „EDF to reduce nuclear output as French river temperatures rise“ https://www.theguardian.com

Eine aktuelle Studie (2025) zeigt, dass steigende Flusstemperaturen die Leistungsfähigkeit europäischer Reaktoren erheblich reduzieren werden.

Quelle: ScienceDirect – Energy Policy (2025): „Thermal stress on nuclear power plants under climate change“ https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0360544225008497

Das gilt auch für Belgien:

Jeder Reaktor, der zusätzliche Jahrzehnte laufen soll, hängt also an einem Klimasystem, das sich gerade rasant destabilisiert.

Was man für denselben Preis nachhaltiger bauen könnte

Um die Dimensionen einordnen zu können, lohnt sich ein Vergleich. Nehmen wir konservativ an, ein neuer belgischer Reaktor würde am Ende rund zwanzig Milliarden Euro kosten. Das ist keine Übertreibung, sondern eher die Untergrenze, wenn man die Erfahrungen aus Grossbritannien, Frankreich und Finnland betrachtet. Mit dieser Summe liessen sich in Belgien ganze Landstriche energiepolitisch neu erfinden. Man muss sich nur trauen, das Gedankenexperiment zu Ende zu führen.

Beginnen wir mit der Photovoltaik. Grossflächige Solarparks sind mittlerweile eine der effizientesten und kostengünstigsten Formen der Stromerzeugung. Bei rund sechshunderttausend Euro pro Megawatt liessen sich mit zwanzig Milliarden Euro etwa dreiunddreissig Gigawatt Solarleistung installieren. Das ist mehr als das Dreifache der gesamten belgischen PV Kapazität von heute und würde den Stromverbrauch von Millionen Haushalten abdecken. Die Anlagen sind schnell gebaut, modular, resilient und unabhängig von Kühlwasser.

Onshore Wind ist teurer als Solar, aber immer noch weit entfernt von den astronomischen Summen, die Atomkraft verschlingt. Mit etwa 1,3 Millionen Euro pro Megawatt käme man auf ungefähr fünfzehn Gigawatt Windkraft an Land. Das sind gewaltige Kapazitäten, verteilt über das ganze Land, ohne zentrale Verwundbarkeit, ohne jahrelange Baustellen, und mit einer Laufzeit, die planbar ist.

Und selbst Offshore Wind, die teuerste der drei Technologien, käme mit denselben zwanzig Milliarden Euro auf acht bis zehn Gigawatt installierte Leistung. Das sind gewaltige Werte, die Belgien tiefgreifend verändern würden, denn Offshore Wind liefert verlässlich und in grossen Mengen, ohne Flüsse zu belasten oder Hitzeperioden fürchten zu müssen.

Zum Vergleich: Der Reaktor Tihange 3 liefert ein einziges Gigawatt. Ein Neubau würde ebenfalls bei ungefähr einem Gigawatt liegen. Das bedeutet, dass Belgien für denselben Preis, den ein einziger zentraler Reaktorblock verschlingt, zwischen acht und fünfunddreissig Gigawatt erneuerbare Leistung bekommen könnte, je nach Technologie und Mischung. In jedem Szenario ist das Vielfache dessen, was ein neuer Atommeiler liefern würde.

Es ist eine Rechnung, die fast schmerzhaft einfach ist. Erneuerbare Energien liefern für jede investierte Milliarde ein Vielfaches an Leistung, sie sind schneller am Netz, verursachen weniger Risiken, und sie funktionieren auch dann, wenn Flüsse Niedrigwasser führen oder sich weiter erwärmen. Atomkraft hingegen ist langsam, teuer, zentralisiert und zunehmend abhängig von Umweltbedingungen, die sich nicht mehr kontrollieren lassen.

Dieser Vergleich zeigt nicht nur, dass Belgien eine Wahl hat. Er zeigt vor allem, wie hoch der Preis ist, wenn man die falsche trifft.

Was Strom wirklich kostet, die nüchterne LCOE Rechnung

Wenn es um Energiepolitik geht, reden Regierungen gern über Visionen, Strategien, Versorgungssicherheit und geopolitische Stabilität. Doch sobald man diese Schlagworte beiseitelässt und sich einfach anschaut, was jede erzeugte Megawattstunde tatsächlich kostet, fällt die Fassade erstaunlich schnell in sich zusammen. Genau dafür gibt es die LCOE Werte, die sogenannten Levelized Cost of Energy. Sie berücksichtigen alles, was ein Kraftwerk über seine gesamte Lebensdauer kostet, also Bau, Betrieb, Brennstoff, Wartung, Rückbau, Finanzierung und bei Atomkraft auch die Endlagerung.

Diese Kennzahl ist gnadenlos ehrlich. Sie zeigt nicht, wie Politiker sich Energie wünschen würden, sondern was sie real kostet.

Für das Jahr 2025 sehen die europäischen Durchschnittswerte so aus: Solar Freiflächenanlagen erzeugen Strom für etwa vierundzwanzig bis fünfundvierzig Euro pro Megawattstunde. Das Fraunhofer Institut bestätigt diesen Trend seit Jahren und geht davon aus, dass Solar weiter günstiger wird, je mehr Kapazität installiert wird. Windenergie an Land liegt bei fünfunddreissig bis sechzig Euro pro Megawattstunde, ebenfalls konstant fallend. Offshore Wind ist teurer, bewegt sich aber immer noch im Bereich von sechzig bis neunzig Euro pro Megawattstunde und bleibt damit konkurrenzfähig, vor allem in Kombination mit grossen Nordseeprojekten.

Und dann kommt die Atomkraft. Neue Reaktoren liegen laut Berechnungen des britischen National Audit Office und des französischen Rechnungshofes bei mindestens hundertvierzig bis zweihundert Euro pro Megawattstunde. Manche Projekte liegen bereits heute darüber, noch bevor sie überhaupt ans Netz gehen. Atomkraft ist damit nicht nur der teuerste Strom Europas, sondern jener Energieträger, dessen Kosten sich am schwersten kontrollieren lassen.

Man kann diese Zahlen drehen und wenden, wie man will, der Befund bleibt derselbe. Belgien würde sich mit neuen Reaktoren bewusst den teuersten Strom aller verfügbaren Technologien einkaufen. Gleichzeitig würde es Technologien ignorieren, die jedes Jahr günstiger werden, schneller ans Netz gehen, keine zentralen Sicherheitsrisiken erzeugen und keine extremen Infrastrukturzwänge haben.

Mit jeder Megawattstunde aus einem neuen Atomreaktor kauft Belgien also nicht nur Strom ein, sondern auch hohe Folgekosten, Abhängigkeiten und ein Preismodell, das dem Energiemarkt von morgen diam##

Fazit

Belgien feiert die Abschaltung von Doel 2, als hätte das Land einen energischen Schritt Richtung Zukunft getan. Doch wer genauer hinschaut, merkt schnell: Es ist reines Symboltheater. Die Richtung bleibt unverändert rückwärtsgewandt. Zwar ist ein Reaktor vom Netz gegangen, aber die neue Regierung verlängert gleichzeitig die Laufzeit der verbleibenden Meiler und plant neue Reaktoren, als wäre das Jahr 1975 und nicht 2025. Es ist Energiepolitik wie aus der Zeit gefallen, getragen von Nostalgie, Lobbydruck und der Hoffnung, dass niemand die Rechnungen genauer liest.

Das Problem: Die Fakten sind unbestechlich.

Ein neuer Reaktor bedeutet Jahrzehnte Bauzeit, immer und überall. Vor allem in Belgien, wo weder Personal noch industrielle Kapazitäten vorhanden sind, um überhaupt ein Projekt dieser Grössenordnung zu schultern. Dazu kommen zweistellige Milliardenbeträge, die stets als „Investition in die Zukunft“ verkauft werden, obwohl sie seit Jahrzehnten fast überall im Desaster enden. Dann die Subventionen: Atomkraft ist ohne gewaltige öffentliche Zuschüsse nicht einmal ansatzweise konkurrenzfähig. Sie ist das teuerste Stromsystem Europas, und zwar ohne jede Übertreibung.

Und als wäre das alles nicht genug, kommt das zwangsläufige Klimarisiko dazu. Atomkraftwerke sind Kühlwassersysteme. Sie brauchen kalte, stabile Flüsse. Wenn Flüsse sinken oder sich aufheizen, steht ein Reaktor still, egal wie viele PR Broschüren ihn „modern“, „sicher“ oder „unverzichtbar“ nennen. All das wird flankiert von der unangenehmsten Tatsache überhaupt: Belgien besitzt kein Endlager und wird in den nächsten Jahrzehnten keines haben. Man produziert weiter Abfälle, deren Endpunkt niemand benennen kann. Politisch betrachtet ist das ein Schuldenpakt mit der Zukunft, den kommende Generationen ausbaden dürfen.

Und dann die Gegenrechnung, die eigentlich jedes Argument für Neubauten pulverisieren müsste: Für die gleichen Milliarden könnte Belgien sein Energiesystem vollständig modernisieren und dezentralisieren. Mit Solar, Wind an Land und auf See, Speichern und intelligenter Verteilung liesse sich ein Vielfaches der Leistung erzeugen, schneller, günstiger und mit deutlich höherer Klimastabilität. Kein Warten bis 2040. Keine Kostenexplosionen. Keine heissen Flüsse, die das System zum Kollaps bringen.

Belgien steht also nicht vor einer technischen Frage, sondern vor einer politischen: Will man Milliarden in eine Technologie versenken, die am Klima scheitert? Oder in ein System investieren, das mit dem Klima funktioniert?

Meine Beobachtung aus den letzten Jahren ist simpel, aber leider konstant: Konservative und liberale Regierungen haben ein bemerkenswertes Talent dafür, der Grossindustrie milliardenschwere Projekte zuzuschustern, vorzugsweise solche, die über Jahrzehnte staatlich abgesichert werden müssen. Atomkraft passt perfekt in dieses Muster. Sie ist teuer, zentralisiert, bürokratieintensiv, politisch symbolträchtig und bietet Konzernen garantierte Gewinne, abgesichert durch öffentliche Gelder. Eine ideale Spielwiese für industrielle Lobbyarbeit.

Erneuerbare Energien dagegen funktionieren anders. Photovoltaik und Windkraft bringen die Wertschöpfung dorthin, wo sie hingehört: zu regionalen Unternehmen, lokalen Installateuren, Elektrobetrieben, Handwerksfirmen, Gemeinden und Bürgerenergiegenossenschaften. Sie schaffen echte Arbeitsplätze, verteilt über das ganze Land, nicht konzentriert in den Verwaltungszentralen eines Energie-Grosskonzerns. Sie sind dezentral, resilient und demokratischer.

Und genau das scheint ihr politisches „Problem“ zu sein: Sie verteilen Macht, statt sie zu bündeln. Sie verteilen Einkommen, statt Subventionen zu vererben. Sie stärken lokale Wirtschaftskreisläufe, statt wenige grosse Player zu füttern.

Wer Milliarden in neue Reaktoren steckt, entscheidet sich nicht für Energie, sondern für ein bestimmtes Wirtschaftsmodell.Eines, das auf grosse Industrie, hohe Kosten und langfristige Staatsgarantien setzt. Nicht eines, das auf regionale Arbeitsplätze, schnelle Umsetzung und breite wirtschaftliche Teilhabe setzt. Darum ist die Nuklearstrategie nicht nur energiepolitisch fragwürdig, sondern ökonomisch rückwärtsgewandt. Belgien könnte mit dem gleichen Geld ein dezentrales, widerstandsfähiges, regional verankertes Energiesystem aufbauen, aber stattdessen wählt man den Weg, der seit Jahrzehnten gut für Konzerne und schlecht für Bürger funktioniert.