Nach Jahrzehnten scheinbarer Stabilität gerät Frankreichs Atommodell ins Wanken. Nicht nur technische und finanzielle Probleme setzen das Land unter Druck, sondern vor allem der Klimawandel, der den Flüssen das Wasser nimmt, das die Reaktoren für den sicheren Betrieb brauchen.
Frankreichs Atomkraft am Limit
Frankreich, das seit Jahrzehnten auf Atomkraft setzt, steht heute vor einer Lage, die sich lange niemand vorstellen wollte. Die neuen EPR Reaktoren kämpfen mit Konstruktionsfehlern, Verzögerungen und explodierenden Kosten, die alten Meiler brauchen dringende Modernisierung, und der staatliche Betreiber ist finanziell wie personell überfordert. Ein ohnehin angeschlagenes System stemmt ein gigantisches Neubauprogramm, während gleichzeitig die Fachkräfte fehlen, um es überhaupt umzusetzen.
Zu den technischen und finanziellen Problemen der französischen Atomkraft kommt ein Faktor hinzu, der sich nicht verhandeln lässt, die Natur. Steigende Temperaturen, sinkende Flusspegel und häufigere Hitzewellen entziehen einem Energiemodell den Boden, das auf stabile Umweltbedingungen angewiesen ist. Frankreichs Reaktoren brauchen verlässlich kühles Flusswasser, doch genau das liefert das Klima immer seltener. Was früher eine seltene Ausnahme war, ist heute ein regelmässiges Sommerphänomen, und dieser Wandel bringt das gesamte System ins Wanken.
Mit anderen Worten, Frankreich hat ein Energiesystem gebaut, das davon ausgeht, dass die Umwelt stabil bleibt. Die Realität zeigt nun, dass dieses Fundament bröckelt. Quelle: https://www.theenergymix.com/low-water-high-water-temps-force-french-nuclear-plants-to-cut-output-despite-rising-demand/
Wenn es heisser wird, müssen Reaktoren abgeschaltet werden
Frankreichs Kernkraftwerke sind vor allem Flussreaktoren. Sie hängen an der Rhône, der Loire, der Mosel und der Garonne. Kühlwasser ist ihr Lebenselixier, denn ohne ausreichend Wasser können sie nicht sicher betrieben werden. Die Temperaturgrenzen der Flüsse sind streng reguliert, um Ökosysteme zu schützen. Wenn die Pegel sinken und das Wasser sich aufheizt, ist die Konsequenz unvermeidlich, Reaktoren müssen ihre Leistung drosseln oder ganz vom Netz gehen. Quelle: https://www.theguardian.com/business/2022/aug/03/edf-to-reduce-nuclear-power-output-as-french-river-temperatures-rise
Diese Abschaltungen sind inzwischen kein Ausnahmefall mehr, sondern ein wiederkehrendes Sommerereignis. 2022 war ein Wendepunkt. Frankreich musste im Hochsommer grosse Teile seiner Kernkraftflotte herunterfahren, weil Flüsse zu warm oder zu niedrig waren. Das Land wurde vom Stromexporteur zum Importeur. Quelle: https://www.catf.us/2023/07/2022-french-nuclear-outages-lessons-nuclear-energy-europe/
2023 und 2024 brachten keine Entwarnung. Auch 2025 zeigt denselben Trend, Dürre und Hitze setzen Flüsse und Kühlwasser erneut massiv unter Druck. Quelle: https://www.euronews.com/2025/07/02/france-and-switzerland-shut-down-nuclear-power-plants-amid-scorching-heatwave
Jede dieser Entwicklungen ist ein Risiko, das kein neuer Reaktorbau beheben kann.
Ein Reaktormodell, das dem Klimawandel nicht standhält
Dass Frankreich seine Energieversorgung so stark an Flüsse bindet, war zu Zeiten stabiler Klimamuster unproblematisch. Die Loire, die Rhône, die Mosel und die Garonne lieferten jahrzehntelang verlässlich die Grundlage für das französische Atommodell, das auf eine konstante und ausreichend kühle Wasserversorgung angewiesen ist. Dieses Modell funktionierte, weil die Umweltbedingungen stabil waren. Doch diese Welt gibt es nicht mehr.
Heute ist die Bindung der Energiewirtschaft an die grossen Flüsse des Landes ein strukturelles Risiko. Frankreich erlebt seit Jahren eine Kombination klimatischer Veränderungen, die sich gegenseitig verstärken.
- Flüsse führen weniger Wasser, weil die Niederschläge regional zurückgehen und der Winter weniger Schnee liefert, der früher die Pegel stabilisierte
- Pegel sinken häufiger und schneller, weil trockene Böden das Wasser schlechter halten und es schneller verdunstet
- Hitzewellen werden länger und intensiver, wodurch die Flüsse zusätzlich aufgeheizt werden
- Ökologische Grenzwerte für die Rückleitung erwärmten Kühlwassers werden früher erreicht, was die Betreiber zwingt, Reaktoren herunterzufahren
Diese Faktoren treffen nicht nur einzelne Standorte, sondern das gesamte nukleare System Frankreichs. Kühlwasser ist die Voraussetzung für den sicheren Betrieb eines Reaktors, und jeder Standort ist an die hydrologischen Bedingungen seines Flusses gebunden. Je stärker der Klimawandel diese Bedingungen verschiebt, desto instabiler wird das Fundament, auf dem das französische Atomprogramm ruht.
Neue oder modernisierte Reaktoren lösen dieses Grundproblem nicht. Sie mögen effizienter, moderner oder sicherer konstruiert sein, aber sie brauchen genau das gleiche, ohne Unterbrechung verfügbare Kühlwasser. Ein Reaktor, der kein Wasser bekommt, kann nicht laufen. Ein Reaktor, der nur heisses Wasser bekommt, gefährdet Umwelt und Sicherheit.
Die französische Atomaufsicht und zahlreiche Fachleute warnen deshalb seit Jahren, dass Wassermangel und Hitzeperioden kein temporäres Problem mehr sind, sondern ein systemischer Faktor, der das gesamte Nuklearportfolio Frankreichs infrage stellt. Ein wissenschaftlicher Bericht aus 2025 hält fest, dass steigende Wassertemperaturen und sinkende Pegelstände die Wahrscheinlichkeit von Leistungsdrosselungen oder Abschaltungen in den kommenden Jahrzehnten massiv erhöhen werden. Quelle: https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0360544225008497
Eine Energiepolitik, die das Klima ausblendet, ist zum Scheitern verurteilt
Frankreich plant trotz aller Schwierigkeiten sechs neue EPR 2 Reaktoren und prüft weitere acht. Die politischen Erklärungen dazu klingen nach Kontrolle, Unabhängigkeit und technischer Souveränität. Doch sie übersehen ein einfaches physikalisches Detail, kein Ingenieur der Welt kann einen Reaktor so bauen, dass er ohne ausreichend Kühlwasser auskommt.
Und damit stellen sich drei Fragen, die niemand wegmoderieren kann:
- Was passiert, wenn der Klimawandel schneller ist als der Reaktorneubau.
- Was passiert, wenn die Sommer heisser, die Flüsse wärmer und die Pegel tiefer werden.
- Was passiert mit einem Land, dessen wichtigste Energiequelle im entscheidenden Moment kein Wasser mehr findet.
Frankreich setzt seine Energiezukunft weiterhin auf einen technologischen Pfeiler, dessen Tragfähigkeit vom Wetter abhängt. Das wäre vor dreissig Jahren eine vage Sorge gewesen. Heute ist es eine konkrete Gefahr.
Die Bilanz ist unmissverständlich
Für ein Land, das sich gern als europäisches Energievorbild sieht, ist dies eine unbequeme Lehre. Ein Energiesystem, das in einer Hitzewelle kollabiert, ist nicht resilient. Ein Kraftwerk, das sich im Sommer selbst abschalten muss, ist keine verlässliche Säule. Eine nationale Strategie, die steigenden Temperaturen und sinkendem Wasser keinen Platz einräumt, ist kein Zukunftsprogramm, sondern ein politischer Blindflug.
Die Frage, die Frankreich beantworten muss
- Will man weiterhin Milliarden investieren, ohne das Klima mitzudenken.
- Will man neue Reaktoren bauen, die in zwanzig Jahren vor denselben Flüssen stehen, die schon heute zu wenig Wasser führen.
- Oder ist es Zeit für ein Energiesystem, das mit den Folgen des Klimawandels kompatibel ist, statt gegen sie anzukämpfen.
Frankreich hat eine der leistungsstärksten und stolzesten Ingenieurtraditionen Europas. Aber selbst die beste Technik verliert, wenn sie gegen die Natur antritt. Und die Natur wird sich an kein Regierungsprogramm halten.