Nach einem Link, den gestern Lutz Becker auf Facebook teilte, wurde mir erneut bewusst, wie tief Grossbritannien mit Hinkley Point C in eine energiepolitische Falle geraten ist. Während der Reaktor inzwischen 46 Milliarden Pfund kostet und Stromkundinnen und Stromkunden ab 2030 jedes Jahr eine Milliarde Pfund zusätzlich zahlen werden, zeigt ein einfacher Vergleich, dass das gleiche Geld ein erneuerbares Energiesystem von vierzig bis fünfzig Gigawatt hätte finanzieren können.
Was wir von Hinkley Point C über Energiepolitik lernen müssen
Der von mir sehr geschätzte Lutz Becker teilte gestern einen Link, der mich fassungslos machte. Ein Bericht aus Grossbritannien, der zeigt, wie tief ein Land in eine energiepolitische Falle laufen kann, wenn Prestige und politische Symbolik wichtiger werden als nüchterne Kostenrechnung. archive.today link
Es geht um Hinkley Point C, den lange versprochenen neuen Atomreaktor an der Küste Somersets. Ein Projekt, das ursprünglich einmal 18 Milliarden Pfund kosten sollte und inzwischen bei etwa 46 Milliarden Pfund angelangt ist. Und das ist nicht das Ende der Geschichte. Der nächste Reaktor, Sizewell C, könnte laut offizieller Modellierung sogar Richtung 100 Milliarden Pfund marschieren.
Die Engländer waren in den letzten Jahren nicht immer die Glücklichsten, wenn es darum ging, gute Entscheidungen zu treffen. Aber was hier passiert, sprengt jeden britischen Massstab für fragwürdige Energiepolitik. Es ist kein Ausrutscher, keine unglückliche Entscheidung, sondern ein strukturelles Desaster, das ganze Generationen belasten wird. Denn sobald Hinkley Point C im Jahr 2030 ans Netz geht, wird das Kraftwerk die privaten Stromkunden jedes Jahr mit rund einer Milliarde Pfund zusätzlich belasten.
Eine Milliarde. Jedes Jahr.
In Frankreich werden derweil die Champagnerflaschen geköpft, denn dieses Geld fliesst direkt an den Betreiber EDF, einen französischen Staatskonzern. Grundlage dafür ist ein politischer Entscheid aus dem Jahr 2013, als Ed Davey, damals Minister für Energie und Klimaschutz und Mitglied der Liberal Democrats, einen garantierten Strompreis von 92,50 Pfund pro Megawattstunde unterzeichnete (Wie man mittlerweile weiss, sollte man Liberale am besten so weit wie möglich von jeder Form von Finanzpolitik fernhalten). Inflationsbereinigt entspricht das heute etwa 133 Pfund, und bis 2030 wird es wohl auf 150 Pfund hinauslaufen. Der Marktpreis für Strom liegt derzeit bei rund 80 Pfund. Die Differenz zahlen die Menschen. Und zwar nicht einmal, sondern Jahr für Jahr, über den sogenannten Contracts for Difference Mechanismus.
Und als wäre das nicht genug, kommt gleichzeitig ein weiterer Betrag von etwa einer Milliarde Pfund hinzu, um die Baukosten von Sizewell C vorzufinanzieren. Das geschieht über das Regulated Asset Base Modell, im Klartext eine verpflichtende Abgabe, die schon während der Bauphase erhoben wird. Manche nennen es eine Atomsteuer. Und das ist nicht übertrieben.
Was mich an dieser Geschichte so erschüttert, ist nicht die Tatsache, dass Regierungen manchmal schlechte Entscheidungen treffen. Das tun sie überall. Sondern die Tatsache, dass diese Entscheidung über Generationen hinweg wirkt. Stromkundinnen und Stromkunden werden für Jahrzehnte zahlen. Und zwar nicht für flexible, modulare, schnell installierbare Energie, sondern für starre, schwere Infrastruktur, die ihre eigenen Kosten nie einholen wird.
In Zeiten, in denen erneuerbare Energien jedes Jahr günstiger werden, also genau dann, wenn die Energiewende eigentlich an Fahrt gewinnen müsste, bindet sich ein Land freiwillig an das teuerste Energiesystem, das der Markt zu bieten hat. Mehr noch, es bindet seine Bevölkerung gleich mit.
Die britische Regierung spricht von einer goldenen Ära der Kernkraft. Sie verspricht sauberen Strom für sechs Millionen Haushalte. Sie rechnet vor, dass langfristig zwei Milliarden Pfund im Energiesystem eingespart werden könnten. Vielleicht. Irgendwann. Unter perfekten Bedingungen. Und wenn niemand die Zahlen nachrechnet.
Ich sehe in dieser Geschichte vor allem eines, einen Mahnruf, wie sehr politische Entscheidungen über Energie die Gesellschaft prägen. Wer heute Milliarden investiert, schafft die Realität von morgen. Wer Verträge unterschreibt, die über Jahrzehnte Laufzeiten haben, nimmt zukünftigen Regierungen die Handlungsfreiheit. Und wer in einem Moment der Unsicherheit das Falsche subventioniert, bezahlt dafür nicht einmal eine Legislatur lang, sondern ein halbes Jahrhundert.
Was man mit dem gleichen Geld stattdessen bauen könnte
Wenn man sich die Zahlen von Hinkley Point C anschaut, drängt sich eine einfache Frage auf: Was wäre möglich gewesen, wenn man die gleichen 46 Milliarden Pfund in moderne, modulare und skalierbare Energieprojekte gesteckt hätte. Nicht zentralisiert, nicht hochriskant, sondern verteilt, flexibel und sofort wirksam.
Nehmen wir ein Gedankenexperiment und teilen das Budget in drei gleich grosse Teile:
- ein Drittel in Offshore Wind
- ein Drittel in Onshore Wind
- ein Drittel in Photovoltaik
Also je rund 15,33 Milliarden Pfund in jede Technologie.
Offshore Wind
Aktuelle Investitionskosten liegen je nach Projekt zwischen zwei und zweieinhalb Millionen Pfund pro Megawatt. Nehmen wir konservativ zwei Millionen Pfund pro MW.
Mit 15,33 Milliarden Pfund könnte man ungefähr: 7,6 Gigawatt Offshore Windkapazität bauen.
Das entspricht mehreren grossen Offshore Windparks und würde jedes Jahr enorme Mengen sauberen Stroms erzeugen, direkt an der Küste, ohne Jahrzehnte langer Verzögerungen.
Onshore Wind
Onshore Wind ist deutlich günstiger. Man rechnet im Durchschnitt mit etwa 1,3 Millionen Pfund pro MW.
Mit dem gleichen Drittel des Budgets ergibt das: 11,8 Gigawatt Onshore Windleistung
Eine Infrastruktur, die schnell baubar ist, flächig verteilt werden kann und im Falle von Störungen kein nationales Risiko darstellt.
Photovoltaik
Noch günstiger ist der Zubau von grossen Solarparks, mit rund sechs hunderttausend Pfund pro Megawatt.
Mit 15,33 Milliarden Pfund könnte man: 25,5 Gigawatt PV Kapazität realisieren.
Solarenergie ist skalierbar, kostengünstig und präzise planbar. Jedes Jahr wächst ihre Effizienz, während die Kosten weiter sinken.
Das Ergebnis
Zusammen ergibt diese alternative Investitionsstrategie: * 7,6 GW Offshore Wind * 11,8 GW Onshore Wind * 25,5 GW Photovoltaik
In Summe rund: 45 Gigawatt neuer erneuerbarer Leistung. Zum Vergleich: Hinkley Point C wird bei Vollbetrieb lächerliche 3,2 Gigawatt liefern.
Das bedeutet, dass eine gleichwertige Investition in erneuerbare Technologien:
- mehr als das Vierzehnfache der Leistung erzeugen kann
- Jahre schneller ans Netz geht
- wesentlich geringere Risiken trägt
- keine jahrzehntelangen Subventionen braucht
- keine unkontrollierbaren Kostenexplosionen erzeugt
Es ist eine einfache Rechnung, die schmerzlich zeigt, wie teuer zentrale, träge Grossprojekte werden können, wenn sie technische Ideale politisch überstrahlen. Die Zukunft der Energie liegt dort, wo jede investierte Milliarde maximale Wirkung erzielt. Und diese Zukunft ist nicht atomar, sondern dezentral, erneuerbar und modular.
Wenn ein Staat 46 Milliarden Pfund ausgibt, sollte das Resultat nicht ein einzelnes Bauwerk sein, das erst 2030 oder später Strom liefert, sondern ein ganzes Netz aus Quellen, das schon heute Versorgungssicherheit schafft.