Geringe Lesekompetenz ist in Deutschland kein Importproblem, sondern entsteht mitten im eigenen Bildungssystem. Millionen Menschen, die hier geboren und sozialisiert wurden, haben dennoch Schwierigkeiten, grundlegende Texte zu verstehen. Erst wenn wir diese unbequeme Realität anerkennen, können wir das Problem dort lösen, wo es tatsächlich entsteht.

Warum geringe Lesekompetenz in Deutschland nicht mit Migration erklärt werden kann

Weil gerade wieder die Behauptung durch bestimmte politische Kreise getrieben wird, Migration sei die Ursache für sinkende Lesekompetenz, lohnt sich ein nüchterner Blick auf die Fakten. Diese Argumentation wirkt zwar bequem und ideologisch verwertbar, doch sie hält keiner ernsthaften wissenschaftlichen Prüfung stand. Wer Leseschwächen pauschal auf Migranten projiziert, verwechselt nicht nur Ursache und Wirkung, sondern lenkt auch von einem unangenehmen Befund ab: Ein beträchtlicher Teil geringer Lesekompetenz entsteht bei Menschen, die in Deutschland geboren wurden, hier zur Schule gingen und nie sprachliche Integrationsbarrieren hatten. Das Problem kommt nicht von außen, es wächst im Inneren des Systems.

Ein deutsches Bildungsproblem, keine Frage der Herkunft

Wenn die Rechten selbst über ausreichend Lesekompetenz verfügen würden, könnten sie die Studien eigentlich lesen, auf die sie sich dauernd berufen wollen. Stattdessen wird wie so oft eine einfache Geschichte erzählt, weil einfache Geschichten politisch besser funktionieren. Migration soll schuld sein, weil sich das gut skandieren lässt und niemand nach den tatsächlichen Ursachen fragt. Doch wer sich die Mühe macht, die Forschungslage wirklich zu verstehen, stößt sehr schnell auf eine unbequeme Erkenntnis. Geringe Lesekompetenz entsteht nicht irgendwo am Rand der Gesellschaft, nicht in isolierten Milieus und schon gar nicht erst seit Menschen aus anderen Ländern nach Deutschland kommen. Sie entsteht mitten im Land, mitten im Bildungssystem, mitten in der Gruppe, die sich selbst gern für den unumstößlichen Kern der deutschen Gesellschaft hält.

Wäre die Realität so simpel, wie manche es gerne hätten, könnte man das Problem bequem delegieren. Die Daten sagen jedoch genau das Gegenteil. Geringe Literalität ist kein Importprodukt, sondern ein hausgemachtes Versagen, das sich durch die Jahrzehnte zieht. Wer in Deutschland geboren wurde, in deutscher Sprache aufwächst, eine deutsche Grundschule besucht und später dennoch nicht sicher lesen kann, beweist nicht den angeblichen Niedergang durch Migration, sondern den Niedergang eines Bildungssystems, das sich zu lange auf seinen Ruf statt auf seine Wirkung verlassen hat.

Diese Wahrheit ist unbequem, vor allem für jene, die lieber Sündenböcke als Strukturen analysieren. Doch genau deshalb muss man sie aussprechen. Geringe Lesekompetenz ist kein Problem von außen, sondern eines, das wir selbst produziert haben. Und wer weiter so tut, als ließe es sich mit Parolen lösen, zeigt nur, wie dringend dieses Land eine echte, nüchterne Bildungsdebatte braucht.

Ein persönlicher Blick auf ein System im Dauerstress

Ich bekomme die Lage im deutschen Bildungssystem nicht nur aus Studien und Berichten mit, sondern täglich am Küchentisch. Als Mann einer Lehrerin sehe ich aus nächster Nähe, was Schulen heute leisten müssen, oft ohne die Werkzeuge, die Ressourcen oder das Personal, das sie bräuchten. Was in politischen Reden als „Herausforderung“ verniedlicht wird, begegnet Lehrkräften als Realität aus Überlastung, Improvisation und strukturellem Mangel. Und dieser Mangel ist kein Randphänomen, sondern der Kern des Problems.

Ein Lehrkräftemangel, der längst zum Normalzustand geworden ist

Heute fehlen nicht nur ein paar Lehrkräfte, sondern ganze Berufsgruppen, die entscheidend für die Funktionsfähigkeit des Systems wären. Der Mangel ist flächendeckend, systemisch und seit Jahren absehbar, doch gleichzeitig politisch erstaunlich gut verdrängt.

Heute fehlen:

Und besonders dramatisch: Es fehlen Schulsozialarbeiterinnen und Schulsozialarbeiter, die an der Schnittstelle zwischen Familie, Schule und Jugendhilfe arbeiten und deren Wirkung man nicht hoch genug bewerten kann.

Schulsozialarbeit ist oft der einzige Grund, warum manche Kinder überhaupt im System gehalten werden können. Sie unterstützt bei Konflikten, sorgt für Stabilität, fängt Krisen ab, vermittelt zwischen Schule und Elternhaus und schafft verlässliche Beziehungen, wo sie sonst fehlen. Aber dort, wo Schulsozialarbeit am dringendsten wäre, ist sie am seltensten vorhanden, weil Kommunen die Kosten scheuen und Länder die Zuständigkeit wegdelegieren.

Ein System, das seine eigenen Engpässe produziert

Die Absurdität besteht darin, dass Deutschland exakt wusste, wie viele Kinder wann zur Schule gehen würden, wie viele Lehrkräfte wann in Pension gehen und wie viele Studienplätze notwendig wären. Diese Daten lagen vor. Sie wurden ignoriert. Lehrkräfte galten politisch vor allem als Haushaltsposition, nicht als gesellschaftliche Investition. Jetzt reagiert man so, als sei der Mangel überraschend vom Himmel gefallen.

Das Ergebnis ist Unterrichtsausfall als Dauerzustand, Vertretungsunterricht als pädagogische Notlüge und ein steigender Anteil an Quereinsteigern, die man ohne ausreichende Vorbereitung in herausfordernde Klassen schickt und dann hofft, dass es schon irgendwie funktioniert.

Die Konsequenz: Ein Bildungssystem, das Kinder verwaltet statt fördert

Man kann nicht einerseits über mangelnde Lesekompetenz, ungünstige PISA-Ergebnisse und soziale Disparitäten klagen und andererseits ein System tolerieren, das seine eigenen Grundlagen systematisch unterminiert. Es ist kein Wunder, dass geringe Lesekompetenz gerade dort entsteht, wo Schulen nicht genug Zeit, Personal oder Ausstattung haben, um überhaupt Grundlagen zu vermitteln.

Ein überlastetes Bildungssystem produziert genau jene Probleme, die später politisch instrumentalisiert werden. Und wenn man einmal gesehen hat, wie viel Mühe Lehrkräfte täglich investieren müssen, um trotz der strukturellen Bedingungen gute Arbeit zu leisten, versteht man sehr schnell, wie wenig die bequemen politischen Erklärungen mit der Realität zu tun haben.

Fazit: Investieren, investieren, investieren

Es führt kein Weg daran vorbei. Wer ein funktionierendes Bildungssystem möchte, muss investieren. Und zwar nicht in irgendeiner hübschen Zukunftsvision, sondern in der harten Realität von heute, die aus zu wenigen Lehrkräften, überlasteten Schulen und ungleichen Chancen besteht. Bildung ist kein Luxus, sondern das Fundament einer demokratischen Gesellschaft. Sie entscheidet darüber, wie Menschen Informationen einordnen, politische Entscheidungen verstehen und in der Lage sind, komplexe Zusammenhänge überhaupt zu erfassen. Eine gut gebildete Bevölkerung ist weniger anfällig für die Verlockung einfacher Parolen und vermeintlich „klarer“ Lösungen, die nur deshalb attraktiv wirken, weil sie die Welt auf das Niveau eines Wahlkampfslogans reduzieren.

Genau hier liegt die unbequeme Wahrheit: Gesellschaften, die zu wenig in Bildung investieren, schaffen sich unbeabsichtigt ein Publikum, das mit einfachen Antworten leichter zu beeinflussen ist. Das ist kein moralisches Urteil über Menschen, sondern eine nüchterne Beschreibung eines Zusammenhangs, den Pädagogik, Soziologie und Politikwissenschaft seit Jahrzehnten kennen. Wer Chancenungleichheit toleriert, produziert nicht nur soziale Ungleichheit, sondern auch politische Verletzlichkeit.

Nach dem Zweiten Weltkrieg gelang es der jungen Bundesrepublik erstaunlich schnell, ein leistungsfähiges Bildungssystem aufzubauen. Die Gründe lagen auf der Hand. Man hatte verstanden, dass ein demokratischer Staat nur dann stabil bleibt, wenn seine Bürgerinnen und Bürger die Fähigkeit besitzen, die Welt selbstständig zu begreifen, statt sich von einfachen Erzählungen leiten zu lassen. In den Fünfzigern und Sechzigern entstand ein Schulsystem, das auf Aufstieg hoffte und Aufstieg ermöglichte. Viele bildungspolitische Debatten dieser Zeit mag man heute belächeln, doch das Grundprinzip war klar. Man investierte, weil man wusste, wofür.

Die spannende Frage ist, wann dieser Weg verloren ging. Manche sehen den Beginn beim Trend zu Monsterschulen und zentralisierten Bildungszentren, in denen Kinder eher verwaltet als gefördert werden. Andere verorten den Bruch in den siebziger Jahren, als man glaubte, strukturelle Ungleichheit durch wohlmeinende Schlagworte wie „gleiche Chancen“ bezwingen zu können, ohne die dafür nötigen Investitionen tatsächlich bereitzustellen. Wieder andere sehen die Wende beim anhaltenden Spardruck seit den Neunzigern, als Bildung zunehmend als Kosten- statt als Zukunftsfaktor betrachtet wurde.

Wahrscheinlich ist es eine Mischung aus allem. Ein langsames, fast unmerkliches Nachlassen, begleitet von politischer Selbstzufriedenheit und dem Glauben, das System werde schon weiterlaufen, weil es bisher immer weitergelaufen ist. Doch Systeme, die dauerhaft überlastet werden, brechen nicht spektakulär zusammen. Sie erodieren. Schleichend. Erst schwindet die Qualität, dann die Ausstattung, dann das Personal, und irgendwann wundert man sich, warum Grundkompetenzen wie Lesen in einem Land, das sich für hochgebildet hält, plötzlich keine Selbstverständlichkeit mehr sind.

Genau deshalb ist Investition kein politischer Wunschzettel, sondern eine demokratische Notwendigkeit. Ein Bildungssystem, das allen Kindern unabhängig vom Elternhaus eine solide Grundlage ermöglicht, ist kein sozialromantisches Projekt, sondern die Voraussetzung für gesellschaftliche Stabilität. Wer heute spart, zahlt morgen vielfach. Und zwar nicht nur finanziell, sondern in Form von Desinformation, sinkender Teilhabe und einer Gesellschaft, die immer empfänglicher wird für vermeintlich einfache Lösungen.

Wenn Deutschland seine Zukunft sichern will, muss es eines wieder lernen: Bildung ist kein Kostenfaktor, sondern die wichtigste Infrastruktur, die ein Land besitzen kann. Und sie ist die einzige, die nicht nur Wohlstand erzeugt, sondern auch Widerstandskraft gegen jene Kräfte stärkt, die mit einfachen Geschichten ein Publikum suchen, das nie gelernt hat, komplexe zu lesen.

Wichtige Studien & Quellen

1. LEO 2018 – Leben mit geringer Literalität * Erfasste für deutschsprechende Erwachsene (18-64 Jahre) in Deutschland den Anteil mit sehr eingeschränkter Lese- und Schreibkompetenz (Alpha-Levels 1-3).  * Ergebnis: Rund 12,1 % der deutschsprechenden Erwachsenen (ca. 6,2 Mio Personen) gelten als gering literalisiert.  * Der Datensatz enthält auch Variablen zur Herkunft, Sprache und Bildung, sodass Analysen möglich sind, die zwischen in Deutschland Geborenen und Zugewanderten unterscheiden. 

2. PIAAC – Programme for the International Assessment of Adult Competencies (Deutschland-Daten) * Internationale Vergleichsstudie der OECD zur Lesekompetenz Erwachsener im Alter 16-65 Jahre.  * Sekundäranalysen zeigen: Der Einfluss der sozialen Herkunft auf die Lesekompetenz in Deutschland ist größer als im OECD-Durchschnitt. 

3. Weitere Arbeiten zur Rolle von sozialer Herkunft und Literalität * Eine Analyse stellt fest, dass etwa 55 % der Erwachsenen mit geringer Literalität Deutsch als Erstsprache haben.  * Eine Meldung (LEO PIAAC 2023-Auswertung) berichtet über rund 20 % der Erwachsenen mit geringer Schriftsprachkompetenz im deutschsprachigen Raum (ca. 10,6 Mio Menschen).