Mir ist in den letzten Monaten besonders aufgefallen, dass der Immobilienmarkt in Aachen völlig aus dem Ruder gelaufen ist. Bezahlbarer Wohnraum ist Mangelware, während gleichzeitig eine Flut von Einfamilienhäusern mit Mondpreisen angeboten wird. Bei den aktuell hohen Zinsen kann sich diese Häuser kaum jemand leisten. Was entsteht, ist eine paradoxe Situation: einerseits akute Wohnungsnot, andererseits eine Blase von unerschwinglichen Objekten, die nicht mehr als Zuhause gedacht sind, sondern längst zum Anlagegut geworden sind.
Genau hier drängt sich der Gedanke an Karl Marx auf: Was er im 19. Jahrhundert als „Verwandlung des Gebrauchsgegenstandes in Ware“ beschrieben hat, sehen wir heute auf dem Wohnungsmarkt in Echtzeit. Häuser verlieren ihre soziale Funktion – Wohnraum zu bieten – und werden zu Vehikeln der Kapitalverwertung.
Marx und Engels: frühe Stimmen zur Wohnungsfrage
Der Begriff Gentrifizierung selbst stammt zwar erst aus den 1960er Jahren, geprägt von der britischen Soziologin Ruth Glass. Doch die Analyse des dahinterliegenden Prozesses ist wesentlich älter. Schon im 19. Jahrhundert beschäftigten sich Karl Marx und Friedrich Engels mit den Mechanismen, die wir heute so nennen würden. Beide sahen, dass Investitionen in Grund und Boden, steigende Bodenrenten und das Bestreben der Bourgeoisie nach den besten Lagen dazu führen, dass Arbeiter verdrängt werden. Engels’ Schrift "Zur Wohnungsfrage" von 1872 gilt dabei als eine der ersten systematischen Analysen: sie zeigt, dass die Aufwertung von Vierteln und die Verdrängung ärmerer Bevölkerungsschichten keine zufällige Entwicklung ist, sondern eine logische Folge des kapitalistischen Systems.
Marx: Wohnen als Ware
In Das Kapital (Band III, besonders Kapitel 37–47 über die Grundrente) analysierte Marx, wie Grund und Boden im Kapitalismus nicht nur Produktionsmittel, sondern selbst Quelle von Einkommen werden. Entscheidend ist für ihn nicht die Nutzung des Bodens, sondern das bloße Eigentum daran. Daraus leitet sich die Grundrente ab: Ein Einkommen, das der Eigentümer kassiert, weil er über ein Stück Erde verfügt.
Marx betont: „Das Haus liefert keine Rente, weil es gebaut, sondern weil es auf einem bestimmten Stück Erde gebaut ist.“ (MEW 25, S. 773)
Damit wird klar: Häuser und Wohnungen werfen nicht deswegen Gewinn ab, weil sie Arbeitskraft oder Material verkörpern, sondern weil sie auf Boden errichtet sind, der knapp und monopolisiert ist. Der Eigentümer kann den Zugang zu diesem Boden verweigern und so eine Rente erzwingen.
Marx unterscheidet deshalb zwischen dem Gebrauchswert einer Wohnung – Schutz, Unterkunft, Gemeinschaft – und ihrem Tauschwert auf dem Markt. Unter kapitalistischen Bedingungen wird dieser Gebrauchswert verdrängt. Der Marktpreis einer Wohnung orientiert sich nicht an den Bedürfnissen der Menschen, sondern an den Renditeerwartungen von Investoren und der Konkurrenz um knappen Raum.
Er fasst das so: „Die Bodenrente ist nichts als ein Teil des Mehrwerts, den das Kapital produziert und den der Grundbesitzer vermöge seines Monopols einstreicht.“ (MEW 25, S. 649)
Das Fazit lautet: Wohnen wird im Kapitalismus zur Ware. Solange Boden privates Eigentum bleibt, verwandelt sich auch Wohnraum in ein Investitionsobjekt. Sobald Kapital auf den Wohnungsmarkt trifft, geraten die Schwächsten ins Hintertreffen: Sie haben zwar Bedürfnisse, aber keine Kaufkraft, und damit auf diesem Markt keine Stimme.
Engels: Die Wohnungsfrage
Noch deutlicher als Marx sprach Friedrich Engels. Seine Schrift Zur Wohnungsfrage (1872) entstand als direkte Antwort auf Debatten in der Arbeiterbewegung seiner Zeit. Engels wandte sich darin gegen bürgerliche Reformideen, die die Wohnungsnot der Arbeiter durch Einzelmaßnahmen oder Genossenschaften lösen wollten. Für ihn war klar: solange das kapitalistische System fortbesteht, bleibt auch die Wohnungsnot bestehen.
Engels beschreibt zunächst die Mechanismen der Verdrängung in den Städten: „Die Bourgeoisie treibt die Arbeiter aus den besten Lagen der Städte hinaus, will die Arbeiter, die ihr zu nahe wohnen, loswerden, und setzt dafür Mietskasernen am Rande der Stadt.“ (MEW 18, S. 236)
Hier wird das Muster sichtbar, das wir heute als Gentrifizierung bezeichnen würden: die Innenstädte werden von den Besitzenden „aufgewertet“, während die Arbeiterklasse in schlechtere und entlegenere Quartiere abgedrängt wird.
Noch wichtiger ist Engels’ Analyse der Ursache: „Die sogenannte Wohnungsnot ist keine Eigentümlichkeit unserer Zeit. Sie hat alle unterdrückten Klassen aller Zeiten gedrückt. […] Sie besteht nicht darin, daß die Arbeiter überhaupt schwer eine Wohnung finden können, sondern darin, daß sie gezwungen sind, in Wohnungen zu leben, die für ihre Gesundheit und ihr Familienleben unzureichend sind, während die bessere Wohnung für sie unerschwinglich bleibt.“ (MEW 18, S. 229)
Damit macht Engels klar: Das Problem liegt nicht in einem „Mangel“ an Wohnungen, sondern in der sozialen Struktur des Marktes. Wohnungen existieren, aber die guten Lagen werden durch Preis und Eigentum unzugänglich gemacht. Der Markt verwandelt Wohnraum in ein Spekulationsobjekt, und die Arbeiter sind gezwungen, in den Restbeständen zu leben.
Besonders scharf wandte sich Engels gegen den Gedanken, man könne das Problem durch kleine Reformen lösen: „Es ist eine der größten Selbsttäuschungen, die Wohnungsnot durch die bloße Errichtung neuer Wohnungen beseitigen zu wollen.“ (MEW 18, S. 248)
Solange Grund und Boden Privateigentum bleiben, so Engels, wird jeder Neubau wieder in die kapitalistische Logik eingespeist, mit steigenden Preisen und erneuter Verdrängung als Ergebnis.
Von der Theorie zur Gegenwart
Engels machte unmissverständlich klar: die Wohnungsfrage ist keine Nebensache, sondern ein Kernproblem der kapitalistischen Gesellschaft. Sie entscheidet nicht nur darüber, ob ein Dach über dem Kopf vorhanden ist, sondern darüber, ob Menschen gesund leben, Familien sich entfalten und Nachbarschaften bestehen können.
Genau darin liegt die Aktualität. Wer heute durch Aachen geht, sieht die gleiche Logik am Werk: Studierende, Familien und Normalverdiener suchen verzweifelt nach bezahlbarem Wohnraum, während gleichzeitig Luxuswohnungen leerstehen oder lediglich als Kapitalanlage im Markt rotieren. Engels’ Diagnose von 1872 wirkt hier wie eine Zeitdiagnose: Wohnraum wird nicht nach Bedarf verteilt, sondern nach Kaufkraft, das Ergebnis ist Verdrängung, soziale Spaltung und ein Verlust an Gemeinschaft.
Fazit
Ob in den Metropolen wie Berlin und London oder in Städten mittlerer Größe wie Aachen: Das Muster wiederholt sich. Wohnraum wird zum Spekulationsobjekt, das der Kapitalverwertung dient. Gemeinschaften zerfallen, Nachbarschaften verlieren ihr Fundament und die soziale Funktion des Wohnens tritt in den Hintergrund.
Besonders deutlich lässt sich das in Aachen am Stadtteil Brand nachvollziehen. In den siebziger Jahren war Brand noch stark geprägt von einem eher dörflichen Charakter, mit bezahlbaren Häusern, gewachsenem Vereinsleben und einer funktionierenden Nachbarschaft. Heute zeigt sich ein ganz anderes Bild: Neubaugebiete mit hohen Einstiegspreisen, steigende Mieten und eine klare soziale Trennung. Wer es sich leisten kann, zieht in großzügige Eigenheime oder Eigentumswohnungen. Wer es nicht kann, wird an den Rand gedrängt. Auch hier wiederholt sich, was Engels bereits beschrieb. Die besten Lagen werden aufgewertet, während die ursprüngliche Bevölkerung nach und nach verschwindet.
Marx und Engels haben früh erkannt, was wir heute erleben: Gentrifizierung ist keine Modeerscheinung, sondern die logische Folge eines Systems, das Wohnen zur Ware macht.
Was wäre die Lösung?
Für Engels war die Sache klar: solange Boden und Wohnraum Privateigentum bleiben, ist das Problem nicht dauerhaft zu lösen. Er forderte die Vergesellschaftung des Bodens und sah darin den einzigen Weg, Wohnen aus der Logik der Spekulation zu befreien.
Heute wird über ähnliche Fragen diskutiert, wenn auch in reformistischerer Form: - Stärkung des sozialen Wohnungsbaus, der dem Markt entzogen wird. - Wohnungsgenossenschaften, die Eigentum in gemeinschaftliche Hand überführen. - Regulierung durch Mietendeckel, Zweckentfremdungsverbote und die Begrenzung von Spekulation. - Langfristig: die Frage, ob Boden als knappe Ressource überhaupt privates Spekulationsobjekt bleiben darf, oder ob er – wie Engels forderte – als Gemeingut betrachtet werden muss.
Die Wohnungsfrage bleibt also ungelöst. Zwischen Engels’ Zeiten und unserer Gegenwart liegt mehr als ein Jahrhundert, die Diagnose ist die gleiche geblieben. Solange Wohnen Ware bleibt, bleibt es ungleich verteilt. Die entscheidende Frage lautet daher: wollen wir Wohnraum dem Markt überlassen oder begreifen wir ihn als Grundrecht, das der Gemeinschaft gehört?