Ich war da etwas näher dran, weil die Firma, in der ich damals gearbeitet hatte, Messcomputer für die Betreiber von Tihange gebaut hat. Und so kam es, dass ich mehrfach die zweifelhafte Ehre hatte, das Kraftwerk höchstpersönlich zu besichtigen. Das klingt jetzt nach Abenteuerurlaub, fühlte sich vor Ort aber eher an wie eine Mischung aus Flughafen-Sicherheitskontrolle und Krankenhausflur. Besonders charmant: Besucher bekamen Dosimeter umgehängt, die im Ernstfall Strahlung registrieren sollten. Das war ungefähr so beruhigend, wie wenn dir jemand beim Einsteigen in eine Achterbahn einen Fallschirm in die Hand drückt und sagt: „Nur für alle Fälle.“
Am Dienstagabend ist es soweit: Tihange 1, der älteste noch laufende belgische Atomreaktor, wird abgeschaltet. Spät in der Nacht kappen die Operatoren im Kontrollraum die Verbindung zum Hochspannungsnetz, ein Moment mit Symbolkraft nach fünf Jahrzehnten Laufzeit.
Ein halbes Jahrhundert Atomkraft an der Maas
Der Bau von Tihange 1 begann 1969, seit 1975 speiste der Reaktor Strom ins Netz ein. Mit seiner Leistung von knapp 1000 Megawatt war er jahrzehntelang ein Pfeiler der belgischen Energieversorgung. Eigentlich hätte das Ende schon 2015 kommen sollen, doch aus Gründen der Versorgungssicherheit erhielt er eine Verlängerung bis 2025. Damit ist Tihange 1 nun der vierte belgische Reaktor, der in den Ruhestand geht, nach Doel 3, Tihange 2 und Doel 1. Ende November folgt auch Doel 2. Weiterlaufen dürfen derzeit nur noch Doel 4 und Tihange 3, beide bis 2035.
Stilllegung oder nur Pause
Offiziell beginnt nun die Phase der Stilllegung. Zunächst wird der Reaktor entladen, die Brennstäbe werden heruntergekühlt und in Zwischenlager gebracht, Rohrleitungen und Systeme chemisch gereinigt. Dieser Nachbetrieb dauert mehrere Jahre und markiert lediglich die Vorbereitung auf den eigentlichen Rückbau. Erst 2028 soll dieser starten, eine Mammutaufgabe, die sich bis mindestens 2040 hinziehen dürfte und auch den Abbau des Reaktordruckbehälters umfasst.
Doch ob es wirklich so weit kommt, ist ungewiss. Die Föderalregierung in Brüssel hat den Betreiber Engie bereits gebeten, vorerst keine unumkehrbaren Schritte einzuleiten. Hintergrund ist der politische Wille, die Laufzeit von Tihange 1 möglicherweise erneut zu verlängern. Die Versorgungssicherheit und die angespannte Energiepolitik spielen dabei eine zentrale Rolle.
Engie selbst zeigt allerdings wenig Begeisterung für diesen Plan. Das Unternehmen will sich langfristig auf den Betrieb von Doel 4 und Tihange 3 konzentrieren und lehnt zusätzliche Verpflichtungen ab. Eine Verlängerung von Tihange 1 würde außerdem hohe Investitionen nach sich ziehen, etwa eine vollständige Zehn-Jahres-Sicherheitsüberprüfung sowie umfangreiche technische Modernisierungen. Ob sich dieser Aufwand für den Konzern rechnet, ist fraglich.
Engpass im Stromnetz
Auch technisch ist der Weg für eine Verlängerung von Tihange 1 nicht frei. In der Region Lüttich entstehen derzeit zwei neue Gaskraftwerke, die schon in wenigen Jahren ans Netz gehen sollen. Diese zusätzlichen Einspeiser verändern die gesamte Lastverteilung in der Region.
Eine Studie des Netzbetreibers Elia kommt zu dem Schluss: Ein Weiterbetrieb von Tihange 1 wäre ab 2027 grundsätzlich möglich, würde das bestehende Stromnetz aber an seine Belastungsgrenzen bringen. Das Problem liegt nicht allein in der Erzeugungskapazität, sondern in den Leitungen selbst. Die Region ist wie eine Flaschenhalszone, in der große Mengen Strom nur schwer abtransportiert werden können.
Ohne zusätzliche Netzausbauten drohen Überlastungen. Um kurzfristig Abhilfe zu schaffen, könnte Elia sogenannte Abregelmaßnahmen einsetzen. Dabei werden einzelne Kraftwerke zeitweise heruntergefahren, damit das Netz stabil bleibt. Diese Praxis ist technisch erprobt, bedeutet aber für die Betreiber Produktionsverluste und für die Allgemeinheit höhere Kosten, da die ausgefallene Energie kompensiert oder entschädigt werden muss.
Langfristig wären daher Netzverstärkungen unverzichtbar, etwa der Ausbau von Hochspannungsleitungen oder neue Knotenpunkte zur besseren Verteilung der Last. Doch solche Infrastrukturprojekte brauchen viele Jahre der Planung und Genehmigung. Bis dahin bleibt die technische Integration von Tihange 1 in Kombination mit neuen Kraftwerken ein Balanceakt zwischen Sicherheit, Wirtschaftlichkeit und politischem Willen.
Belgien zwischen Ausstieg und Rückkehr
Der Fall Tihange 1 ist mehr als ein einzelnes Kapitel der Energiegeschichte. Er steht sinnbildlich für die belgische Energiepolitik der letzten Jahrzehnte. Entscheidungen wurden immer wieder verschoben, verlängert oder neu interpretiert. Mal galt der Ausstieg als beschlossene Sache, mal wurde er aufgeschoben. Zwischen Klimazielen, Versorgungssicherheit und der Belastbarkeit der Netze bleibt vieles im Fluss.
Doch eines wird immer deutlicher: Ein Festhalten an alter Atomtechnik ist weder ökonomisch noch ökologisch sinnvoll. Atomstrom ist teuer, die Kosten für Sicherheit, Rückbau und Entsorgung sind immens und werden am Ende größtenteils von der Allgemeinheit getragen. Zugleich blockiert jede Laufzeitverlängerung Investitionen in erneuerbare Energien und moderne Netze.
Ob Tihange 1 dauerhaft vom Netz geht oder in einigen Jahren zurückkehrt, ist noch offen. Die Entscheidung fällt nicht in Huy im Kontrollraum, sondern in Brüssel am Verhandlungstisch. Aus Sicht einer zukunftsorientierten Energiepolitik gibt es jedoch nur eine Antwort: Atomstrom lohnt sich nicht.
Was Belgien jetzt braucht, sind Investitionen in Sonne, Wind, Speicher und Netze. Alles andere ist teure Nostalgie. Atomkraft erzählt Geschichten von rostigen Betonhüllen, Milliardengräbern und politischen Notlösungen. Zukunft entsteht nicht im Kühlwasserbecken eines fünfzig Jahre alten Reaktors, sondern in erneuerbaren Energien, die jeden Tag billiger und leistungsfähiger werden.