Eine neue Ära: Bürger als Energieproduzenten

Bei der globalen Energiewende geht es um mehr als nur den Ersatz fossiler Brennstoffe durch erneuerbare Energien. Es geht darum, wer die Macht kontrolliert – im wahrsten Sinne des Wortes.

Über ein Jahrhundert lang wurden die Erzeugung und Verteilung von Strom streng von zentralisierten Institutionen kontrolliert: Regierungen, Versorgungsmonopole und fossile Brennstoffkonzerne. Energie war etwas, das man kaufte, passiv verbrauchte und bezahlte – oft ohne zu wissen, wie oder wo sie produziert wurde.

Aber heute, dank Solarzellen, Windkraftanlagen, Batteriespeichern und digitalen Tools, erlebt die Energie eine radikale Veränderung. Wir erleben den Aufstieg des Prosumers – jemand, der Energie sowohl produziert als auch verbraucht.

Technologien wie Solar- und Windenergie sind nicht nur sauber, sondern auch von Natur aus demokratisch. Im Gegensatz zu Kohleminen, Gaspipelines oder Kernkraftwerken können sie zu Hause installiert, in Nachbarschaften gebündelt oder von lokalen Genossenschaften verwaltet werden. Sie erfordern keine Milliardeninvestitionen oder geopolitische Zugeständnisse. Was sie brauchen, ist Platz, Sonnenlicht, Wind – und Menschen, die bereit sind, zu handeln.

Dieser Wandel ermöglicht etwas wirklich Revolutionäres:
Bürgerbesitz an der Energieinfrastruktur.

Das bedeutet: - Ein Landwirt kann Land für eine Windkraftanlage pachten und damit Einkommen erzielen, während er lokale Haushalte versorgt. - Eine Nachbarschaft kann eine Solaranlage auf einer Schule crowdfunden und die Einsparungen aufteilen. - Eine Gruppe von Rentnern kann in eine lokale Energiegenossenschaft investieren und Dividenden aus Kilowattstunden statt aus Aktien erzielen.

Durch die Dezentralisierung der Produktionsmittel bricht erneuerbare Energie langjährige Hierarchien im Energiesektor auf. Die Bürger sind nicht mehr nur passive Energieempfänger – sie sind Akteure, Innovatoren und Entscheidungsträger.

Und das macht diese Energiewende nicht nur technisch, sondern auch zutiefst politisch: eine Machtverschiebung von den Oligarchien der fossilen Brennstoffe hin zu den Menschen, von extraktiven Systemen hin zu regenerativen Gemeinschaften und von Abhängigkeit hin zu Selbstbestimmung.

Von Verbrauchern zu Miteigentümern

Die Energiewende ist nicht nur technisch, sondern auch sozial. In ganz Europa und darüber hinaus schließen sich Gemeindemitglieder zusammen, um die Kontrolle über ihre Energieversorgung zurückzugewinnen. Was einst ein System war, das von einer Handvoll mächtiger Unternehmen dominiert wurde, wird jetzt durch Tausende von lokalen Initiativen neu gestaltet.

Die Leute organisieren sich, um: - Energiegenossenschaften zu gründen, in denen Bürger ihre Ressourcen bündeln, um in Windkraftanlagen, Solaranlagen und Energieinfrastruktur zu investieren. - Gemeinschaftliche Solaranlagen auf Wohnhäusern, öffentlichen Gebäuden, Schulen und Unternehmen zu bauen, von denen Mieter und lokale Akteure gemeinsam profitieren. - In Mikronetze, Batteriespeichersysteme und Fernwärmenetze zu investieren, die oft demokratisch verwaltet werden und einer starken lokalen Kontrolle unterliegen.

Diese Projekte sind mehr als nur Stromerzeuger – sie sind Triebkräfte für wirtschaftliche Widerstandsfähigkeit, sozialen Zusammenhalt und demokratisches Engagement. Wenn die Menschen gemeinsam Eigentümer der Infrastruktur sind, haben sie ein Mitspracherecht bei deren Betrieb, der Verteilung der Gewinne und der Preisgestaltung für Energie.

Das Ergebnis ist günstigere, sauberere und verantwortungsvollere Energie.

Wichtig ist, dass der wirtschaftliche Wert in der Region bleibt. Die Einnahmen fließen nicht an multinationale Investoren oder Unternehmen aus dem Bereich fossiler Brennstoffe, sondern werden in die Gemeinschaft reinvestiert – in Form von niedrigeren Energiekosten, Dividenden für die Mitglieder oder neuen lokalen Nachhaltigkeitsprojekten.

In Belgien haben Genossenschaften wie Ecopower, BeauVent und Courant d’Air gezeigt, wie dieses Modell in großem Maßstab funktioniert.
Courant d’Air, wo ich schon seit Jahren Mitglied bin, betreibt Wind- und Solarprojekte in den Ostkantonen und darüber hinaus. Ihre Energie ist nicht nur zu 100 % erneuerbar, sondern auch zu 100 % bürgernah.

Projekte wie diese zeigen, dass Energiedemokratie kein Traum ist – sie ist bereits Realität. Überall in Europa zeigen Dörfer, Kleinstädte und Großstädte, dass Energie lokal in Besitz, kooperativ verwaltet und sozial gerecht sein kann.

Dezentralisierung = Demokratisierung

Das traditionelle Energiemodell war zentralisiert und hierarchisch aufgebaut: Einige wenige große Energieversorger oder staatliche Unternehmen kontrollierten die Infrastruktur, legten die Preise fest und bestimmten die Bedingungen. Die Energie floss in eine Richtung – vom Kraftwerk zum Stecker – und die Gewinne flossen in die gleiche Richtung: nach oben und nach außen.

Mit erneuerbaren Energien bricht dieses Monopol zusammen. Sonnenkollektoren können auf Häusern, Scheunen, Lagerhallen oder öffentlichen Gebäuden installiert werden. Windkraftanlagen können auf genossenschaftlichem Land errichtet werden. Batterien und intelligente Zähler ermöglichen es den Gemeinden, Angebot und Nachfrage lokal zu steuern. Plötzlich sind die Produktionsmittel für normale Leute erreichbar.

Diese Dezentralisierung: - verbessert die Netzstabilität durch Diversifizierung der Quellen und Verkürzung der Lieferketten, - ermöglicht lokale Reinvestitionen, sodass die Energiegewinne in der regionalen Wirtschaft bleiben, - stärkt die Gemeinschaftsidentität und die Klimasolidarität, da die Leute zusammenarbeiten, um Emissionen zu reduzieren und ihre eigene Zukunft zu sichern.

Dieser Wandel ist nicht nur eine technische Verbesserung – es ist eine strukturelle Neugewichtung der Macht. Sie verlagert die Kontrolle von zentralen Behörden und Unternehmensvorständen in Nachbarschaften, Bauernhöfe, Genossenschaften und Bürgerversammlungen.

Wie Karl Marx so treffend argumentierte, liegt der Schlüssel zur wahren Freiheit im Besitz der Produktionsmittel.
Zum ersten Mal in der modernen Energiegeschichte ist diese Vision in greifbare Nähe gerückt – nicht durch eine Revolution, sondern durch Photovoltaikanlagen auf Hausdächern, intelligente Wechselrichter und die Zusammenarbeit der Bürger.

Dies ist eine stille Revolution mit weitreichenden Folgen:
Energie als Gemeingut, nicht als Unternehmensvermögen. Macht als Teilhabe, nicht als Unterwerfung.

Energie als Gemeingut

Immer mehr Energieprojekte gehen über den reinen Verkauf von Strom an passive Verbraucher hinaus. Stattdessen setzen sie auf Modelle wie Peer-to-Peer-Energiehandel, kollektiven Eigenverbrauch, Energie-Sharing und sogar Blockchain-basierte Mikronetze.

Diese Ansätze betrachten Strom nicht mehr als handelbare Ware, sondern als Gemeingut – eine lebenswichtige Ressource, die gemeinsam, transparent und lokal verwaltet werden sollte.

Das Ergebnis? - Mehr Transparenz, da die Gemeinden wissen, woher ihre Energie kommt und wie sie bepreist wird, - Mehr Bürgerbeteiligung, da die Menschen eingeladen sind, sich zu beteiligen, mitzuentscheiden und gemeinsam zu profitieren, - Gerechterer Zugang zu sauberer Energie, insbesondere in ländlichen oder einkommensschwachen Gebieten, die von marktorientierten Ansätzen oft benachteiligt werden.

In Belgien werden im Rahmen des Pilotprojekts „Sharepair“ in Leuven und von REScoop.be unterstützten Initiativen Modelle der Energieverteilung unter Bürgern erprobt.
Unterdessen wird das vom EU-Paket für saubere Energie unterstützte Modell der „Energiegemeinschaften“ in nationales Recht umgesetzt, sodass belgische Bürger sich offiziell als Energiegemeinschaften organisieren können, die ihren eigenen Strom produzieren, speichern und verteilen – und ihn legal unter den Teilnehmern teilen.

Diese Entwicklungen markieren eine neue Grenze in der Energiewende: eine Grenze, an der saubere Energie nicht nur installiert, sondern demokratisiert, geteilt und im öffentlichen Bereich gehalten wird.

Politik ist wichtig

Diese demokratische Energiezukunft kommt nicht von selbst. Sie entsteht nicht nur aus der Begeisterung der Basis oder den Marktkräften. Sie braucht klare, unterstützende und zielgerichtete politische Rahmenbedingungen, die die Bürger nicht nur als Gebührenzahler, sondern als aktive Teilnehmer am Energiesystem anerkennen.

Um das volle Potenzial der kommunalen Energie zu erschließen, brauchen wir: - Unterstützende Regulierung, die es bürgergeführten Projekten erleichtert, sich an das Netz anzuschließen, Genehmigungen zu erhalten und ohne übermäßigen bürokratischen Aufwand in großem Maßstab zu arbeiten. - Fairen Zugang zu Märkten und Subventionen, damit Energiegenossenschaften und Prosumer nicht von großen etablierten Unternehmen mit besseren rechtlichen und finanziellen Möglichkeiten verdrängt werden. - Politischen Willen, Dezentralisierung vor Unternehmenslobbyismus zu stellen.

Die Europäische Union hat mit dem Paket „Saubere Energie für alle Europäer“ wichtige Schritte unternommen, das die Rechte von Bürger-Energiegemeinschaften und Erneuerbare-Energien-Gemeinschaften offiziell anerkennt. Diese juristischen Personen sind berechtigt, erneuerbare Energie zu erzeugen, zu verbrauchen, zu speichern und zu verkaufen – einzeln oder gemeinsam.

In Belgien entwickeln Flandern, Wallonien und Brüssel jeweils ihre eigenen Interpretationen der EU-Gesetze zu Energiegemeinschaften – einige schneller und ehrgeiziger als andere.

Die Fortschritte sind echt, aber die Herausforderungen sind genauso greifbar: veraltete Netzregeln, begrenzte Finanzmittel für kleine Akteure, Rechtsunsicherheit und Widerstand von etablierten Energieinteressen.

Wenn die Regierungen eine gerechte und inklusive Energiewende ernsthaft anstreben, müssen sie mehr tun, als nur Solaranlagen zu finanzieren.
Sie müssen Raum für öffentliches Eigentum, demokratische Governance und lokale Innovationen schaffen – nicht nur in der Rhetorik, sondern auch in der Gesetzgebung.

Energiedemokratie ist ein politisches Projekt.
Und wie alle politischen Projekte hängt ihr Erfolg davon ab, welche Regeln wir schreiben – und auf welche Stimmen wir hören.

Warum es wichtig ist

Energie ist nicht nur eine technische Infrastruktur. Sie ist Macht: - Wer besitzt die Infrastruktur? - Wer bestimmt die Preise? - Wer entscheidet, wie unsere Energiezukunft aussieht?

Über Jahrzehnte hinweg lag diese Macht in den Händen einiger weniger Konzerne und zentraler Institutionen. Heute haben wir die historische Chance, sie neu zu verteilen – fairer, transparenter, partizipativer.

Solar- und Windenergie geben Kontrolle zurück an die Gesellschaft.
Sie verwandeln Verbraucher in Gestalter, Abhängigkeit in Teilhabe, Stromrechnungen in Investitionen in die eigene Zukunft.

Das ist nicht nur grüne Energie.
Das ist: Energie in Menschenhand.

Das ist nicht nur technische Innovation.
Das ist: Demokratie in Aktion.

Das ist nicht nur eine Wende beim Strom.
Das ist: Power to the people.

Wenn Energie als Gemeingut verstanden und gestaltet wird, dann wird aus Kilowattstunden ein Hebel für: - soziale Gerechtigkeit, - Bürgerbeteiligung, - eine zukunftsfähige, resiliente Gesellschaft.

Die Energiewende ist kein reines Klimaprojekt.
Sie ist eine tiefgreifende Umverteilung von Verantwortung und Einfluss.
Und sie beginnt bei uns allen.