Mehr als nur Streik: Die Stärke der belgischen Gewerkschaften
In Belgien wird gern und regelmäßig gestreikt – fast so zuverlässig wie in Westflandern der Regen aufzieht. Doch wer denkt, es gehe dabei bloß um ein paar Cent mehr oder einen zusätzlichen Tag frei, irrt gewaltig. Hier wird nicht nur gestreikt, hier wird verhandelt, debattiert und notfalls das ganze Land lahmgelegt – mit Prinzipien und Passion.
Denn es geht um mehr: gesellschaftliche Gerechtigkeit, Respekt und eine soziale Ordnung, die nicht von Börsenkursen bestimmt wird, sondern von echter Mitbestimmung. Belgien hat eine der kampfstärksten, klügsten und fest im Alltag verankerten Gewerkschaftsbewegungen Europas – und das hat gute Gründe.
Verankert statt verwaltet
Während andernorts Gewerkschaften mühsam WhatsApp-Gruppen gründen, organisieren belgische Verbände seit Jahrzehnten ganze Städte mit Rollkoffern und Transparenten. Die drei großen Dachverbände – ABVV/FGTB (sozialistisch), ACV/CSC (christlich) und ACLVB/CGSLB (liberal) – wirken nicht wie Lobbyorganisationen, sondern wie Sozialämter mit Herz und Haltung.
Man geht zur Gewerkschaft, wenn der Chef spinnt, der Lohn fehlt oder die Welt untergeht. Und manchmal auch einfach so. Denn Gewerkschaften in Belgien bieten Rechtsberatung, Arbeitslosenkassen, Bildungsangebote und ein verdammt gutes Kaffeeautomaten-Netzwerk.
Drei Farben, ein Anliegen
Sozialistisch, christlich, liberal – man könnte denken, hier marschiert jeder in eine andere Richtung. Aber wenn's drauf ankommt, stehen sie Schulter an Schulter vor dem Premierministeramt, mit klaren Worten und Notfall-Flugblättern.
Dieser ideologische Pluralismus macht belgische Gewerkschaften nicht schwächer, sondern anpassungsfähiger und lebendiger. Und während man sich über Details kabbeln kann, ist die Grundüberzeugung dieselbe: Der Mensch ist kein Kostenfaktor, sondern Subjekt politischer Würde.
Straße, Parlament und Pausenraum
Belgische Gewerkschaften können nicht nur Verhandeln – sie können auch Krach machen, wenn es sein muss. Landesweite Streiktage sind kein Ausnahmezustand, sondern Teil der politischen Hygiene. Wenn Regierungen tricksen oder Konzerne kürzen, ist der Protest oft schneller organisiert als ein Wetterbericht in Brüssel.
Das macht Eindruck. In der Politik. In den Chefetagen. Und in den Medien, die belgischen Streikaktionen zwar gern die Schuld für Zugverspätungen geben – aber trotzdem jede Demo live begleiten.
Kein Museum, sondern moderne Bewegung
Vergiss den Klischee-Gewerkschafter mit Schnauzer und 80er-Käppi: Belgische Gewerkschaften sind digital, vernetzt und kampagnenfähig. Sie arbeiten mit Klimaaktivist:innen, Frauenorganisationen und Jugendgruppen zusammen. Sie beraten queere Beschäftigte. Und sie kämpfen nicht gegen, sondern mit der Zeit. In einer Welt voller unsicherer Jobs, Plattformarbeit und Globalisierung brauchen wir nicht weniger Gewerkschaft – sondern mehr. Und vor allem: mehr von dieser Sorte.
Fazit
Belgien zeigt, dass Gewerkschaften mehr sein können als Anhängsel vergangener Klassenkämpfe. Sie sind soziale Architekten, Sprachrohr der Unsichtbaren und Verteidiger des gesellschaftlichen Anstands. Wer das für altmodisch hält, sollte mal eine belgische Betriebsversammlung besuchen – oder sich in der Warteschlange beim Streikkaffee ein bisschen umsehen.
Denn: Demokratie funktioniert nicht ohne Gegenmacht. Und belgische Gewerkschaften sind genau das – mit Rückgrat, Humor und verdammt viel Erfahrung.
Eine solche lebendige und streikbereite Gewerkschaftskultur fehlt in vielen anderen Ländern – vor allem in Deutschland, wo Kompromiss oft mit Stillstand verwechselt wird, und in den Niederlanden, wo Streiks eher als Betriebsunfall gelten denn als demokratischer Ausdruck.
Man merkt den Unterschied auch im Alltag: Ob Kassiererin im Supermarkt oder Postbote in der Vorstadt – belgische Beschäftigte treten meist deutlich entspannter auf. Sie wissen: Hinter ihnen steht nicht nur ein Arbeitsvertrag, sondern ein solidarisches Netz. In anderen Ländern hingegen ist oft ein schmaler Grat zwischen Job und Jobverlust spürbar – verbunden mit Unsicherheit, Überlastung und Angst, überhaupt noch den Mund aufzumachen.
Vielleicht täte uns allen ein bisschen belgischer Gewerkschaftsgeist gut – nicht nur auf dem Papier, sondern auch auf der Straße.